Neue Westfälische - Bad Oeynhausener Kurier
Ein nackter König für den Kurpark-Eingang
Die Stadt geht mit den Märchenfiguren in die nächste Runde. Bildhauerin Astrid Mulch arbeitet zurzeit an der kleinen Meerjungfrau, dem Sterntaler-Mädchen, dem Kaiser, den es nach neuen Kleidern dürstet, und dem Rumpelstilzchen. Ein Besuch im Gartenatelier
Bad Oeynhausen. Stur und unbeeindruckt blicken die beiden törichten Jungfrauen geradeaus. Für das Fabelwesen, das da gerade in ihrem Frauenhaus auf der Lohe aus einem Stück Ziegelton modelliert wird, haben die biblischen Damen aus dem Matthäus-Evangelium keinen Blick übrig. Und selbst die amerikanische Lyrikerin Amanda Gorman, die mit ihrem Gedicht bei Joe Bidens Amtseinführung für Furore sorgte, schenkt der angehenden Meerjungfrau keine Beachtung. Mehr Aufmerksamkeit wird das Fabelwesen mit Sicherheit im Oktober erreichen, wenn es vor dem Brunnen am Augustaplatz seine endgültige Bleibe gefunden hat. Die kleine Meerjungfrau ist die erste von vier weiteren, vom Kulturausschuss abgesegneten Bronzefiguren, mit denen die Bildhauerin Astrid Mulch die märchenhafte Familie in der Stadt erweitern wird.
Ein 20 Quadratmeter großes Holzhaus ist das Atelier
Letzten Sommer hat die Stadt beschlossen, 25 bis 30 Märchenfiguren bei der Künstlerin in Auftrag zu geben. Damit möchte man nach dem Erfolgsmodell der Stadt Breslau, in der Hunderte von Zwergen in Kupfer-Zinn-Legierung Touristen anlocken, mehr Aufmerksamkeit auf die Kurstadt lenken. Die ersten vier Märchenfiguren wurden bereits in der Innenstadt aufgestellt: der gestiefelte Kater am Platz vor der Deutschen Bank, Rapunzel an der Fassade des
Verkehrshauses und Rotkäppchen und der Wolf am Bahnhofsvorplatz. Jetzt hat der Kulturausschuss acht weitere Arbeiten abgesegnet. Und für vier von ihnen wurden die Mittel schon genehmigt.
In den nächsten Wochen werden im Atelier von Astrid Mulch die kleine Meerjungfrau für den Brunnen am Augustaplatz, Rumpelstilzchen für die Straße „Am Kurpark“, die Sterntaler für die Klosterstraße auf der Höhe der Goldschmiede Bock und des Kaisers neue Kleider für den Haupteingang des Kurparks am Inowroclawplatz entstehen.
Duftende Blumenbeete, Vogelgezwitscher und das Rauschen von Baumwipfeln. Mitten in dem romantischen Garten hoch oben auf der Lohe steht ein einfaches Holzhaus. Vor der Eingangstür wacht ein illustres Empfangskomitee aus Königstochter, Sonnenanbeterin und dem Erzengel Michael. Das 20 Quadratmeter große Holzhaus ist das Atelier von Astrid Mulch. Seit 23 Jahren formt und meißelt sie hier ihre Skulpturen und Plastiken.
Die meisten von ihnen sind weiblich. Hier hat Hekate, die Vorgängerin von Frau Holle, das Licht der Welt erblickt. Genauso wie die Sirenen – Fabelwesen aus Mensch und Fisch, die der Erzählung nach durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffer anlockten, um sie dann zu töten. Und die griechische Bergnymphe Daphne, eine jungfräuliche Jägerin, die auf der Flucht vor Apollo erstarrt und sich in einen Lorbeerbaum verwandelt. Manche von ihnen wirken wie alte Gemälde, deren Farbfläche schon gebrochen
ist.
Vier große Leuchtstoffröhren unter der Decke bringen ausreichend Licht in den Raum, damit die Bildhauerin arbeiten kann. Mit Säge, Spachtel, Raspeln und Bildhauerbeil gestaltet die 58-jährige Künstlerin den Seelenklang ihrer Figuren in Stuckgips, Bronze und Terrakotta. Verzweiflung und Angst. Schmerz und Trauer. Sehnsucht und Hoffnung. Aber auch Glückseligkeit. Dabei geht es ihr nie um eine Momentaufnahme von Leid, denn dafür strahlen die Figuren zu viel Stärke aus. „Bei meinen
Arbeiten geht es darum, Gefühle und emotionale Konflikte zu untersuchen, auszuloten und darzustellen“, beschreibt Astrid Mulch, was sie antreibt. Und das wird auch an den Märchenfiguren in der Innenstadt nicht spurlos vorbeigehen. Etwa an dem Kaiser, der am Inowroclawplatz nackt und mit großer Krone residieren wird. „Die Haltung ist das A und O. Wenn die stimmt, ist die halbe Miete eingefahren“, sagt die Künstlerin, während sie den aus grobem Ziegelton geformten Rücken der kleinen Meerjungfrau auf einem Brett mit Stange genauer fixiert. Mit mindestens einer Arbeitswoche rechnet sie, um eine der Plastiken zu modellieren. „Nachdem die Figur angelegt ist, arbeite ich an den Details. Dann muss sie etwa sechs Wochen trocknen, bevor ich sie nach Bremen in eine Bronzegießerei zur Weiterverarbeitung fahre“, beschreibt sie ihre Arbeitsweise. Wenn die Plastiken zurückkommen, wiegen sie jeweils fünf Kilogramm.
Fürs Rumpelstilzchen aus Bronze hat sie Wölfe studiert
Während die kleine Meerjungfrau der Künstlerin verhältnismäßig schnell von der Hand geht, braucht das Rumpelstilzchen erst einmal Vorarbeiten. „Um mich der Figur anzunähern, habe ich zuerst die Anatomie von Wölfen studiert“, berichtet Astrid Mulch. So war das auch, als sie den Prototyp des gestiefelten Katers als Anschauungsobjekt für den Kulturausschuss modelliert hat. In der Größe orientiert sich die Künstlerin an den Breslauer Zwergen. Die waren mit „Taubengröße“angegeben, also etwa 30 Zentimeter groß. Zu klein ist ihr das nicht. Denn: „Die sollen ja nicht auf den ersten Blick entdeckt, sondern gesucht werden“, gibt sie zu bedenken.
Für Astrid Mulch ist der Auftrag der Stadt etwas ganz Besonderes. „Einfach ein Traum“, sagt die Künstlerin. Nicht nur, weil sie über viele Jahre hinweg im Märchenmuseum an der Hängung von Ausstellungen beteiligt war, sondern auch, weil sie jetzt bei gleich einer ganzen Großfamilie emotionale Konflikte ausloten und darstellen kann.