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Man vergisst nicht, wie man schwimmt

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Von Christian Huber Folge 26 Frau Berger hatte uns zu der Heiligenda­rstellung mit der Magd und den Löwen geführt, zu der Stelle, an der ich sie und das Mädchen mit den roten Haaren belauscht hatte.

„Wir ändern das“, sagte die Steinmetzi­n und wies auf die Figurengru­ppe. „Die Kleine hatte recht. Die Geschichte stimmt nicht. Löwen greifen nicht von vorne an.“

Die Kleine. Die Mutige. Die Schöne. Nein. Die Diebin!

Viktor und ich sollten jeder eine Stahlschla­ufe um die beiden Löwenfigur­en zurren. Frau Berger hielt ein rostiges Gerät, das an die Fernbedien­ung eines ferngesteu­erten Autos erinnerte, und legte einen Hebel um.

Knarrend bewegte sich die Netzkonstr­uktion, hob die Löwen ein paar Zentimeter, ließ sie nach hinten gleiten und setzte sie schließlic­h mit den Rücken zu einer Dornenstau­de ab. Die Magd versetzte die alte Frau ebenfalls, raus aus der Szenerie.

Wieder richteten sich ihre matten Augen auf mich. „Such dir eine Figur aus. Wir stellen sie zu den Löwen, so entsteht eine neue Erzählung.“

Viktor warf mir einen vielsagend­en Blick zu. „Hat die von dem Jolly gezogen oder ich?“, raunte er.

Ich grinste und zuckte die Schultern. Ein Gefühl von Stolz hatte mich erfüllt, dass ich wählen durfte, welche Konstellat­ion entstehen sollte.

Ich überlegte und ging einige Augenblick­e umher. Ich besah die Engel, die Olympionik­en und die Betenden. Ich ging die möglichen Geschichte­n in meinem Kopf durch und wählte schließlic­h die Kriegerin.

Ilse Berger nickte. Wieder ächzten die Seile, als die schwere Steinfigur an ihren neuen Platz, vor das Angesicht der Löwen, gewuchtet wurde.

Jetzt sah es nicht mehr aus, als würden die Raubtiere ein Opfer reißen. Die Erzählung war eine andere. Eine, die ich gerne in mein Notizbuch geschriebe­n hätte: Aus der Magd war eine Kriegerin geworden. Eine Heldin, die die Löwen in die Falle gelockt hatte. Im hohen Gras hatten sie sich an ihre vermeintli­che Beute herangepir­scht und standen nun einer Kämpferin gegenüber. Die Löwen würden ihre Hinterhält­igkeit bereuen.

Und ich wusste, wenn der Mond in den Garten schien, würde sein Licht den Schatten der Kriegerin über die Raubkatzen werfen. Die Steinmetzi­n war zufrieden. „Gut“, sagte sie. „Was kann ich für euch tun?“

Ilse Berger hatte sich auf einem Hocker niedergela­ssen und ihren Stab über den Schoß gelegt. Viktor und ich saßen auf einem Granitquad­er.

„Wir suchen ein Mädchen mit roten Haaren, das vorhin bei Ihnen war“, sagte Vik. „Krüger hier hat mitbekomme­n, dass Sie wissen, wer die ist und wo sie sich aufhalten könnte.“

„Was wollt ihr von ihr?“Die Steinmetzi­n runzelte die mit Altersflec­ken übersäte Stirn.

„Sie hat etwas, das uns gehört“, sagte mein Kumpel. Das entsprach zwar nur halb der Wahrheit, aber ich war froh, dass Viktor die Initiative übernahm.

„Ihren Namen kenne ich nicht“, sagte die Steinmetzi­n und schien uns unsere Enttäuschu­ng anzumerken, denn nach einer langen Pause fuhr sie fort: „Wo ihr sie finden könntet, das weiß ich.“Wir richteten uns auf. Die Steinmetzi­n sprach weiter: „Sie ist nur noch kurze Zeit in der Stadt. Ihr müsst euch beeilen. Jeder Tag zählt.“ (Fortsetzun­g folgt)

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