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Extrem beunruhigend
Durch Hitzschlag vom Himmel fallende Vögel, versiegende Staudämme und gigantische Überschwemmungen wie derzeit in Brasilien – Lateinamerika ist eine der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen
Rio de Janeiro.
Die Straßen sind nicht nur zerstört – sie existieren einfach nicht mehr. Die Ernten sind ruiniert, Flugzeuge stehen unter Wasser, im Fußball-stadion von Porto Alegre wabert eine braune Masse. Auf der Südhalbkugel der Erde ist jetzt Herbst, Überschwemmungen kommen um diese Zeit immer wieder vor – doch nicht so heftig wie jetzt. Es ist eine Katastrophe biblischen Ausmaßes, die der Süden Brasiliens derzeit erlebt. Riesige in dieser Form historisch hohe Niederschlagsmengen ergossen sich in den letzten Tagen über den Bundesstaat Rio Grande do Sul, allein in der Hauptstadt Porto Alegre starben bislang 149 Menschen, viele werden noch vermisst. Die Millionenmetropole wird wegen der über die Ufer getretenen Flüsse wohl noch über einen Monat unter Wasser stehen. Die Schäden gehen in die Milliarden. Erst langsam wird den Menschen klar, dass hier nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Und zur Naturkatastrophe kommen auch noch menschliche Abgründe: Aus einigen Notunterkunftslagern in Porto Alegre werden Vergewaltigungen gemeldet, auch wenn die Polizei von Einzelfällen spricht – nächtliche Patrouillen hat sie dennoch eingesetzt.
Energie für extreme Ereignisse
„Die Katastrophe ist auf das Zusammentreffen mehrerer Faktoren zurückzuführen“sagt die brasilianische Geografin Karina Lima im Gespräch mit dem Redaktions Netzwerk Deutschland (RND). „Das Wetterphänomen El Niño ist immer noch präsent und begünstigt mehr Regen in der Region. Und dann gab es einen Korridor, der Feuchtigkeit aus dem Amazonasgebiet brachte, sowie atmosphärische Blockaden aufgrund der warmen Luftmasse über dem Zentrum des Landes.“Das alles führte zu extremen Regenmengen über dem Bundesstaat Rio Grande do Sul. Lima macht auch den Klimawandel dafür verantwortlich: „Die Erwärmung der Atmosphäre und der Ozeane aufgrund der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung erzeugt die Energie für diese extremen Ereignisse.“
Hinzu kommen auch menschengemachte Umstände. Daten, die der Organisation Mapbiomas vorliegen, zeigen laut BBC, dass Rio Grande do Sul zwischen 1985 und 2022 etwa 3,5 Millionen Hektar einheimischer Vegetation verloren hat. Das entspreche 22 Prozent der ursprünglichen Vegetationsdecke des Bundesstaates von 1985, die sich ursprünglich aus Wäldern, Feldern, Sümpfen und anderen Formen der einheimi
schen Vegetation zusammensetzte. Stattdessen wurde dort vor allem Soja angebaut. Wichtigster Abnehmer: China.
Im Visier des Klimawandels
Auch der brasilianische Umwelt-wissenschaftler Marcelo Dutra (48) sieht den Klimawandel als eine der Hauptursachen für die Dimension der Regenfälle: „Es ist die Mischung von Klimawandel und Wetterphänomen. Und das bedeutet, dass Ereignisse wie sehr viel Regen in Zeiten von El Niño oder Dürren in Zeiten von La Niña vom Klimawandel noch einmal verstärkt werden.“Dutra sagt im Gespräch mit dem RND: „Was wir in Rio Grande do Sul spüren, wird wahrscheinlich auch in anderen Teilen der Welt zu spüren sein. Belastungen durch extrem hohe Temperaturen, durch Winde, die weit über ihre bisherige Geschwindigkeit und Kraft hinausgehen oder sehr starke Regenfälle in kurzer Zeit. Das alles ist kein Zufall. Wir werden uns darauf einstellen müssen.“
Warum es nun ausgerechnet den Bundesstaat Rio Grande do Sul so dramatisch getroffen hat,
„Das alles ist kein Zufall. Wir werden uns darauf einstellen müssen.“
erklärt Dutra mit der außergewöhnlichen geografischen Lage: „Die südlichen Regionen sind während La Niña weniger anfällig für intensive Regenfälle. Aber jetzt, während El Niño, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für starke Regenfälle. Unsere Lage ist unser Pech. Wir sind also genau im Visier des Klimawandels. Und deshalb müssen wir uns möglicherweise viel mehr anpassen als andere Regionen.“
Das alles wird nach Einschätzung von Dutra zu einer völlig neuen Vorgehensweise beim Wiederaufbau der Region führen: „Wir müssen die Pläne aller Kommunen überarbeiten. Alles innerhalb eines Flusseinzugsgebiets gehört auf den Prüfstand. Es wird nicht mehr möglich sein, einfach so weiterzumachen und wieder aufzubauen, wie wir es immer gemacht haben.“Es seien Ernten, Infrastrukturen und Produktionsflächen zerstört worden. Dies bedeute: „Wir können nicht mehr die gleiche Brücke an die gleiche Stelle setzen, oder die Brücke auf die gleiche Weise, in der gleichen Größe bauen. Wir brauchen eine viel robustere und sicherere Straßeninfrastruktur. Und wir können nicht länger Wohngebiete in der Nähe von Gewässern an Stellen errichten, die nicht durch einen bestimmten Abstand geschützt sind und von dem wir bereits wissen, dass das Wasser bei einem sehr extremen Regenereignis dort zuerst eintrifft.“
Wer zahlt den politischen Preis?
Wer den politischen Preis für diese Entwicklung zu bezahlen hat, ist noch offen. Brasiliens Präsident Lula da Silva bemüht sich um ein Krisenmanagement, sagt Hilfsgelder zu. Aber auch für ihn wie für die Vorgängerregierungen gilt: Eindringliche Warnungen, wie die von der heutigen Umweltministerin Marina Silva, die die Schaffung einer Klimabehörde forderte, um vor solchen Extremwetterereignissen
zu warnen, wurden ignoriert. Auch von Lula.
Inmitten dieser Gemengelage stehen wichtige Weichenstellungen an: Lula steht bislang hinter den Plänen des staatlichen Konzerns Petrobras auch im Amazonasbecken nach Erdöl zu bohren. Das Unternehmen erlebt gerade personelle Turbulenzen an der Spitze. Die neue Präsidentin Magda Chambriard muss sich nun entscheiden: Weiter so wie früher oder neue Wege gehen. Die Zeitung „O Estadao“sieht es so „Lula will nie dagewesene Situationen mit alten Ideen angehen, sowohl bei der Tragödie in Rio Grande do Sul als auch bei Petrobras“.
Die Katastrophe in Brasilien steht derzeit im Fokus der Weltöffentlichkeit, auch wegen der dramatischen Bilder, die aus Rio Grande do Sul auf die Bildschirme weltweit gelangen. Aber Lateinamerika erlebte jüngst eine immer kürzere Abfolge von dramatischen Klima- und Wetterereignissen.
In der Region Huasteca Potosina lassen gefühlte Temperaturen von 55 Grad die Mönchsittiche abstürzen: Dutzende der grünen Papageien sind ebenso wie die ikonischen Tukane laut „El Universal“in den letzten Tagen vom Himmel gefallen. Einige vegetieren dehydriert dahin, andere sind bereits tot. Die Umweltorganisationen Selva Teenek Ecopark und UMA kümmern sich inzwischen um die Aufnahme der betroffenen Vögel. Gleichzeitig geben sie der Bevölkerung Tipps, wie Tiere vor den extremen Temperaturen in der zentralmexikanischen Region geschützt werden können. Sofern das mit menschlicher Hilfe überhaupt möglich ist.
Rund 3500 Kilometer südlich in Costa Rica sorgten zuletzt ausbleibende Regenfälle dafür, dass die Stauseen immer leerer wurden. Weil das mittelamerikanische Land aber fast komplett auf erneuerbare Energien setzt, soll ab dieser Woche der Strom zum ersten Mal seit 2007 rationiert werden, wie lokale Medien berichten. Die zuständigen Behörden führen die dramatische Situation auf das Wetterphänomen El Niño zurück, das seit Mitte 2023 ein Niederschlagsdefizit von 40 bis 70 Prozent verursacht habe. Präsident Rodrigo Chaves Robles wirbt
„Die Erwärmung der Atmosphäre und der Ozeane aufgrund der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung erzeugt die Energie für diese extremen Ereignisse.“
nun dafür, wieder über die Förderung von Erdöl- und Erdgas nachzudenken, um die Energieversorgung wetterunabhängiger zu machen. Allerdings gibt es dagegen erbitterten Widerstand der Umweltschutzorganisationen.
Mittelamerika erlebte zuletzt nicht nur Dürren oder Regenfälle: Verheerende Tropenstürme und Hurrikane sorgten in Honduras, El Salvador und Guatemala für Zerstörungen und Ernteausfälle – und sind damit ein Motor für die Migration Richtung Norden.
Neu sind solche Verhältnisse nicht, aber ihre Ausprägung und Häufigkeit werden immer auffälliger. In Uruguay schlugen die Behörden im letzten Jahr Alarm, weil das Trinkwasserreservoir für die Hauptstadt Montevideo wegen einer anhaltenden Dürre zu versiegen drohte. Wasserhähne röchelten bedrohlich, die Regierung mischte schließlich Wasser des Rio de la Plata dazu. Kurz bevor die Situation noch brenzlicher wurde, begann es zu regnen, Uruguays Metropole entging nur knapp einem Desaster.
Ort ohne Zukunft
Auch in den Anden sind die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren. Hier drohen Geisterdörfer wie im argentinischen Skigebiet Los Penitentes. Dort wachsen auf dem verwaisten Marktplatz inzwischen Gräser und Blumen. Einst war die Gemeinde das Skisport-vorzeigeprojekt des Landes, doch dann fiel immer weniger Schnee.
Das Wintersportgebiet liegt auf einer Höhe von 2579 bis 3194 Metern zu Füßen des Aconcagua, dem mit 6961 Metern höchsten Gipfel Amerikas. Eine Mischung aus Klimawandel und Misswirtschaft haben Los Penitentes inzwischen zu einer Tourismusruine und einer Art Klima-menetekel gemacht. Zum Skifahren und Snowboarden stehen eigentlich rund 25 Kilometer Piste zur Verfügung, inklusive Lifte. Doch es fällt seit Jahren einfach nicht mehr genügend Schnee. „Seit fünf Jahren ist alles beim Alten, und es ist noch schlimmer geworden“, sagte Bewohnerin Veronica Tsallis. Das Dorf sei zu einem Ort ohne Zukunft geworden.
Trauriger Rekord
In Venezuela ist die Entwicklung schon einen Schritt weiter. Der Humboldt-gletscher, auch bekannt als La Corona, bedeckte einst 4,5 Quadratkilometer Fläche. Heute existiert nur noch ein klitzekleiner Bruchteil davon. Vor mehr als hundert Jahren zählte Venezuela noch sechs Gletscher mit einer Fläche von etwa 1000 Quadratkilometern. Dann wurde dort Öl gefunden.
Und nun droht ausgerechnet das ölreichste Land der Welt einen hohen Preis für das eigene Geschäftsmodell zu bezahlen: Es wäre das erste Land der Moderne weltweit, das alle seine Gletscher verloren hat. Dafür sprudeln immerhin noch die Ölquellen. Doch auch diese Quelle ist endlich.
Marcelo Dutra, Umweltwissenschaftler
Karina Lima, Geografin