Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld mit Oerlinghausen

Hymne der ewigen Liebe zwischen Gott und seinem Volk

- Natalia Verzhbovsk­a ist Gemeinde-rabbinerin in der Jüdischen Kultusgeme­inde Bielefeld K. d. ö. R. Sie ist zu erreichen unter rabbinerin@juedische-gemeinde-bielefeld.de

Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir: Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch! Denn siehe, vorüber ist der Winter, vorbei, dahin der Regen. Die Blumen zeigen sich im Land, es naht des Gesanges Zeit, der Turteltaub­e Gurren hört man überall. Der Feigenbaum hat seine Früchte gefärbt, die Reben blüh’n und duften. Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch!

Die Worte aus dem Schir haschirim, dem Lied der Lieder (dem Hohelied) berühren die Seele und wecken romantisch­e Emotionen. Diese Liebesgesc­hichte, die voller Begeisteru­ng und Enttäuschu­ng, Intimität und Entfremdun­g, Treue und Verrat ist, ist in der jüdischen Tradition mit dem Pessachfes­t verbunden worden. Aber was hat dieses lyrische Buch mit dem majestätis­chenfestde­rbefreiung­derjuden aus der ägyptische­n Sklaverei zu tun? Zu diesem Fest würde wahrschein­lich eine Musik wie Beethovens „Ode an die Freude“eher passen als eine Romanzewie„dodili“–„mein Geliebter ist mein.“

Um diese Frage zu beantworte­n, muss man in die Geschichte zurückgehe­n, zu der Zeit, als die jüdischen Weisen darüber diskutiert­en, welche Bücherauße­rdertorazu­mkanon der Heiligen Schriften hinzugefüg­t werden sollten. Um das Lied der Lieder wurden in den rabbinisch­en Kreisen heftige Diskussion­en geführt. Ein

Gegenargum­ent war, dass Gott in diesem Buch überhaupt nicht erwähnt wurde und der Text selbst zu romantisch, zu erotisch, zu persönlich erscheint. Die Stimme zur Verteidigu­ng des Buches erhob Rabbi Akiva, der sagte: „Denn die ganze Welt ist nicht so würdigwied­ertag,andemdasho­helied Israel gegeben wurde; denn alle Schriften sind heilig, aber das Hohelied ist das Allerheili­gste. Wäre die Thora nicht gegeben, worden, hätte die Welt allein durch das Hohelied regiert werden können.“

Das Hohelied, eines der provokativ­sten und aufrühreri­schsten Grenzbüche­r in der jüdischen Bibel, ist zur Hymne der ewigen Liebe zwischen Gott und seinem Volk geworden und von Rabbinern ausgewählt, um jüdische Menschen in ihren Pessachtag­e zu begleiten. Denn aus der Sicht der Rabbiner ist die ganze Pessachges­chichte diesem Thema gewidmet: aus Liebe befreite Gott die Israeliten aus der Sklaverei; aus Liebe gab Er ihnen Seine Lehre, aus Liebe erneut

Er täglich Seine Schöpfung, mit der Hoffnung, dass die Menschen ihm mit Liebe antworten. Heute, da die Welt von zahlreiche­n Konflikten erschütter­t ist, muss man die Stimme der Liebe erheben. Jüdinnen und Juden rufen alle Menschen auf, gegen Vorurteile, Hass, Intoleranz und Feindschaf­t zu kämpfen, denn nur dann kann die Menschheit echte Freiheit erreichen, um die Lieder der Liebe zusammen zu singen. Pessach Sameach! Ein frohes Pessachfes­t!

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Natalia Verhbovska

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