Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld mit Oerlinghausen
Hymne der ewigen Liebe zwischen Gott und seinem Volk
Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir: Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch! Denn siehe, vorüber ist der Winter, vorbei, dahin der Regen. Die Blumen zeigen sich im Land, es naht des Gesanges Zeit, der Turteltaube Gurren hört man überall. Der Feigenbaum hat seine Früchte gefärbt, die Reben blüh’n und duften. Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm doch!
Die Worte aus dem Schir haschirim, dem Lied der Lieder (dem Hohelied) berühren die Seele und wecken romantische Emotionen. Diese Liebesgeschichte, die voller Begeisterung und Enttäuschung, Intimität und Entfremdung, Treue und Verrat ist, ist in der jüdischen Tradition mit dem Pessachfest verbunden worden. Aber was hat dieses lyrische Buch mit dem majestätischenfestderbefreiungderjuden aus der ägyptischen Sklaverei zu tun? Zu diesem Fest würde wahrscheinlich eine Musik wie Beethovens „Ode an die Freude“eher passen als eine Romanzewie„dodili“–„mein Geliebter ist mein.“
Um diese Frage zu beantworten, muss man in die Geschichte zurückgehen, zu der Zeit, als die jüdischen Weisen darüber diskutierten, welche Bücheraußerdertorazumkanon der Heiligen Schriften hinzugefügt werden sollten. Um das Lied der Lieder wurden in den rabbinischen Kreisen heftige Diskussionen geführt. Ein
Gegenargument war, dass Gott in diesem Buch überhaupt nicht erwähnt wurde und der Text selbst zu romantisch, zu erotisch, zu persönlich erscheint. Die Stimme zur Verteidigung des Buches erhob Rabbi Akiva, der sagte: „Denn die ganze Welt ist nicht so würdigwiedertag,andemdashohelied Israel gegeben wurde; denn alle Schriften sind heilig, aber das Hohelied ist das Allerheiligste. Wäre die Thora nicht gegeben, worden, hätte die Welt allein durch das Hohelied regiert werden können.“
Das Hohelied, eines der provokativsten und aufrührerischsten Grenzbücher in der jüdischen Bibel, ist zur Hymne der ewigen Liebe zwischen Gott und seinem Volk geworden und von Rabbinern ausgewählt, um jüdische Menschen in ihren Pessachtage zu begleiten. Denn aus der Sicht der Rabbiner ist die ganze Pessachgeschichte diesem Thema gewidmet: aus Liebe befreite Gott die Israeliten aus der Sklaverei; aus Liebe gab Er ihnen Seine Lehre, aus Liebe erneut
Er täglich Seine Schöpfung, mit der Hoffnung, dass die Menschen ihm mit Liebe antworten. Heute, da die Welt von zahlreichen Konflikten erschüttert ist, muss man die Stimme der Liebe erheben. Jüdinnen und Juden rufen alle Menschen auf, gegen Vorurteile, Hass, Intoleranz und Feindschaft zu kämpfen, denn nur dann kann die Menschheit echte Freiheit erreichen, um die Lieder der Liebe zusammen zu singen. Pessach Sameach! Ein frohes Pessachfest!