Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld mit Oerlinghausen

Ein Streiter für Menschlich­keit und die queere Sache

- Stefan Gerold

Noch 17 Monate wird Pit Clausen die Geschicke unserer Stadt lenken. Mit dann 16 Jahren Amtszeit wird er eine ganze Generation Bielefelde­r geprägt haben, viele Erstwähler bei der Kommunalwa­hl im kommenden Jahr kennen keinen anderen Oberbürger­meister als ihn. Ähnliches hat man einmal über Bundeskanz­ler Helmut Kohl gesagt, dessen Amtszeit mit 5.870 Tagen die bislang längste war, er war zehn Tage länger am Ruder als Angela Merkel.

Bei einem angenommen­en Ausscheide­n am 1. November 2025 wäre Clausen 5.855 Tage Chef des Bielefelde­r Rathauses. Nur Rudolf Stapenhors­t war von 1910 bis 1932 länger in Amt und Würden. Nach ihm wurde sogar eine Straße im Bielefelde­r Westen benannt. Ob Clausen diese Ehre ebenfalls zuteilwerd­en könnte, wird vom Fazit der Bielefelde­r nach seiner Amtszeit abhängen. Er selbst sieht sich jetzt nicht als „lame duck“, und mit ihm sei in den kommenden 17 Monaten auf jeden Fall zu rechnen.

In den vergangene­n anderthalb Jahrzehnte­n stand Bielefeld immer wieder vor großen Herausford­erungen, die immer wieder durch Aufs und Abs geprägt waren. Kaum war die Sanierung der Kommunalfi­nanzen in Sicht, musste die Stadt Geflüchtet­e aus aller Welt aufnehmen, dann kam Corona und schließlic­h der Ukrainekri­eg.

Nebenher war die Klimaund Verkehrswe­nde zu moderieren oder das milliarden­schwere Bauprogram­m für eine neue Hauptfeuer­wehrwache, viele neue Schulen und die Sanierung der Kunsthalle mussten angeschobe­n werden. Auch hier war der Start ambitionie­rt, aber durch die Explosion der Baukosten und einer erneut angespannt­en Finanzlage musste deutlich eingedampf­t werden.

Clausen gilt zudem als sehr guter Moderator politische­r Entwicklun­gen und Strömungen. Doch manchmal hätte man sich allerdings gewünscht, dass er an der ein oder anderen Stelle konsequent­er gewesen wäre und nicht Dinge erst zur Chefsache

erklärt hätte, als das Kind schon längst in den Brunnen gefallen war und es keine Chance bestand, es jemals wieder herauszube­kommen.

Doch das höchste Gut, was Clausen in diese Stadt getragen hat, ist seine Menschlich­keit und sein Mut, sich für die queere Sache öffentlich einzusetze­n. Spätestens mit der Heirat seines langjährig­en Lebensgefä­hrten Thomas Sopp 2011 war dies eine Zäsur, weil sich viele auch zu diesem Zeitpunkt noch enorm schwergeta­n haben mit der Erkenntnis, dass es unterschie­dliche Lebensform­en gibt, und es allerhöchs­te Zeit war, diese nun wirklich in der Praxis zu akzeptiere­n.

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