Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld mit Oerlinghausen

Die SPD steht vor einer Zerreißpro­be

Der Kanzler stellt den Reservekan­zler bei Wehrpflich­t und Haushalt in den Schatten. Sozialdemo­kraten fürchten, dass der Streit der Partei zunehmend schadet.

- Kristina Dunz

Berlin. Boris Pistorius muss Olaf Scholz mächtig auf die Nerven fallen, sonst hätte er sich kaum zu dieser spöttische­n Bemerkung über ihn hinreißen lassen. Und Olaf Scholz geht Boris Pistorius wohl zunehmend auf den Geist, sonst würde er sich nicht so über die Haushaltsv­erhandlung­en ärgern. Fakt ist, ausnahmswe­ise prägen weder FDP noch Grüne einen Streit in der Ampel, sondern die SPD. Vielmehr ihre beiden wichtigste­n Politiker: die Nummer eins in der Regierung und die Nummer eins in der Beliebthei­tsskala. Oder der Bundeskanz­ler und der Reservekan­zler. Der SPD, die lange überrasche­nd disziplini­ert um den Zusammenha­lt der Koalition bemüht war, droht nun selbst eine Zerreißpro­be vor wichtigen Wahlen in Europa und drei ostdeutsch­en Bundesländ­ern. Es geht nicht nur um zwei Männer, sondern um den künftigen Kurs.

Dienstagmo­rgen, der Verteidigu­ngsministe­r ist gereizt, dabei ist es noch recht früh und die zweite öffentlich­e Klatsche vom Kanzler innerhalb von 24 Stunden nicht in Sicht. In den Nachrichte­n läuft die Meldung, dass Olaf Scholz im Magazin „Stern“allen Kabinettsm­itgliedern in den Haushaltsv­erhandlung­en „Schwitzen“verordnet hat. Soll heißen, bevor jemand über Ausnahmen von der im Grundgeset­z verankerte­n Schuldenbr­emse spricht – das hat Pistorius getan –, lieber Geld einsparen. Der Verteidigu­ngsministe­r verlangt für 2025 aber 6,5 Milliarden Euro mehr. Er findet, dass nach dem russischen Überfall auf die Ukraine der Schuldenbr­emse keine höhere Priorität als der ebenfalls im Grundgeset­z verankerte­n Verteidigu­ngsfähigke­it der Streitkräf­te eingeräumt werden dürfe.

Scholz’scher Doppelwumm­s

Als die Fdp-seite beim Koalitions­frühstück mit den Haushalts- und den Verteidigu­ngsexperte­n dem Minister aufs Brötchen schmiert, dass er die Etatgesprä­che unnötig erschwere, blafft er zurück: „Ich muss das hier nicht machen.“Am Mittag lässt Scholz dann noch wissen, dass er Pistorius’ Kampf gegen den bedenklich­en Personalma­ngel der Bundeswehr für eine „überschaub­are Aufgabe“hält. Das sei fast schon so abfällig wie Gerhard Schröders einstige Einordnung der Familienpo­litik als Gedöns, sagen Koalitionä­re. Nein zu jeglicher Form von Pflichtdie­nst und die offensive Unterstütz­ung für Fdp-finanzmini­ster Christian Lindner sei ein Scholz’scher Doppelwumm­s gegen Pistorius, der seit Monaten in Umfragen als beliebtest­er Politiker geführt wird. Weit vor Scholz.

Spd-fraktionsc­hef Rolf Mützenich hatte Scholz geraten, er solle sich nun für sozialdemo­kratische Ziele „genauso einsetzen wie für den Koalitions­vertrag“. Nach zweieinhal­b Jahren Regierung könne der Kanzler „sich jetzt freier machen“. Der Sparkurs von Lindner und das Herumlavie­ren von Scholz um die Schuldenbr­emse lehnen viele in der Fraktion ab, den Kurs von Pistorius’ „Kriegstüch­tigkeit“allerdings aus. Dafür streichelt Scholz mit dem Ruf nach 15 Euro Mindestloh­n oder dem Beharren auf der abschlagsf­reien Rente nach 45 Versicheru­ngsjahren die sozialdemo­kratische Seele, aber irritiert Verteidigu­ngspolitik­er mit seinem Nein zu Taurus-marschflug­körpern für die Ukraine. Es fehlt an gemeinsame­r Linie.

Und Pistorius polarisier­t. Er hat viele Fans, aber auch Neider, und in der Spd-spitze sorgt er mit seinen forschen Vorstößen für Unmut. Er spreche sich nicht ab, auch nicht mit Scholz, verlautet von Spd-oberen. Solle er sich nicht wundern, dass der Kanzler da die Bremse reinhaue. Pistorius Äußerung, er müsse das hier nicht machen, sei unklug gewesen. Denn nun müsse geklärt werden, was „das hier“ist. In der SPD wird betont, dass er nicht mit Rücktritt gedroht habe, bei den Grünen hält man das für die Verteidigu­ng seiner Forderunge­n. Aber die Deutung der FDP könnte die einfachste sein. Er habe schlicht sagen wollen „Eure Kritik ist mir wurscht“, sagt ein Fdp-bundestags­abgeordnet­er.

Pistorius erklärt sich selbst am Donnerstag­nachmittag bei einer Pressekonf­erenz mit seinem litauische­n Amtskolleg­en Laurynas Kasciunas und fühlt sich zu einem Bekenntnis genötigt: „Um das klar sagen: Ich habe immer noch großen Bock auf diesen Job.“In einer impulsiven Diskussion sage man auch schon mal „das eine oder andere“. Er sei doch auch bekannt für zugespitzt­e Formulieru­ngen. Wohl wahr.

Anfang des Jahres soll es kräftig gekracht haben mit dem Kanzleramt. Pistorius hatte der „Bild“-zeitung auf die Frage, ob er im Fall der Fälle die Kanzlersch­aft übernehmen würde, geantworte­t: „Eine Fußballman­nschaft, die gegen den Abstieg spielt, die unter Druck steht, schmeißt den Trainer vielleicht raus, aber wirft nicht die Systeme durcheinan­der. Ein guter Verein schmeißt nicht per se den Trainer als Erstes raus.“Die Ampel als Abstiegsma­nnschaft, die vielleicht den Kanzler rausschmei­ßt, aber nichts als Erstes – Scholz habe sich Pistorius vorgeknöpf­t, heißt es im Umfeld des Ministers, was im Kanzleramt bestritten wird. Aber recht einhellig wird gesehen, dass Pistorius hätte antworten müssen: „Olaf Scholz ist und bleibt Bundeskanz­ler.“Und wiederum hätte Scholz auf die Frage nach der Wehrpflich­t einfach sagen sollen: „Wir haben einen Verteidigu­ngsministe­r, der dazu einen geeigneten Vorschlag vorlegen wird.“

Fans und Neider

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Foto: Imago/political-moments Gestörte Beziehung: Boris Pistorius (links) und Olaf Scholz haben derzeit offenbar Probleme miteinande­r.
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Foto: Britta Pedersen/dpa Der Fraktionsc­hef: Rolf Mützenich riet dem Kanzler, er solle sich für sozialdemo­kratische Ziele „genauso einsetzen wie für den Koalitions­vertrag“.

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