Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld mit Oerlinghausen
Die SPD steht vor einer Zerreißprobe
Der Kanzler stellt den Reservekanzler bei Wehrpflicht und Haushalt in den Schatten. Sozialdemokraten fürchten, dass der Streit der Partei zunehmend schadet.
Berlin. Boris Pistorius muss Olaf Scholz mächtig auf die Nerven fallen, sonst hätte er sich kaum zu dieser spöttischen Bemerkung über ihn hinreißen lassen. Und Olaf Scholz geht Boris Pistorius wohl zunehmend auf den Geist, sonst würde er sich nicht so über die Haushaltsverhandlungen ärgern. Fakt ist, ausnahmsweise prägen weder FDP noch Grüne einen Streit in der Ampel, sondern die SPD. Vielmehr ihre beiden wichtigsten Politiker: die Nummer eins in der Regierung und die Nummer eins in der Beliebtheitsskala. Oder der Bundeskanzler und der Reservekanzler. Der SPD, die lange überraschend diszipliniert um den Zusammenhalt der Koalition bemüht war, droht nun selbst eine Zerreißprobe vor wichtigen Wahlen in Europa und drei ostdeutschen Bundesländern. Es geht nicht nur um zwei Männer, sondern um den künftigen Kurs.
Dienstagmorgen, der Verteidigungsminister ist gereizt, dabei ist es noch recht früh und die zweite öffentliche Klatsche vom Kanzler innerhalb von 24 Stunden nicht in Sicht. In den Nachrichten läuft die Meldung, dass Olaf Scholz im Magazin „Stern“allen Kabinettsmitgliedern in den Haushaltsverhandlungen „Schwitzen“verordnet hat. Soll heißen, bevor jemand über Ausnahmen von der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse spricht – das hat Pistorius getan –, lieber Geld einsparen. Der Verteidigungsminister verlangt für 2025 aber 6,5 Milliarden Euro mehr. Er findet, dass nach dem russischen Überfall auf die Ukraine der Schuldenbremse keine höhere Priorität als der ebenfalls im Grundgesetz verankerten Verteidigungsfähigkeit der Streitkräfte eingeräumt werden dürfe.
Scholz’scher Doppelwumms
Als die Fdp-seite beim Koalitionsfrühstück mit den Haushalts- und den Verteidigungsexperten dem Minister aufs Brötchen schmiert, dass er die Etatgespräche unnötig erschwere, blafft er zurück: „Ich muss das hier nicht machen.“Am Mittag lässt Scholz dann noch wissen, dass er Pistorius’ Kampf gegen den bedenklichen Personalmangel der Bundeswehr für eine „überschaubare Aufgabe“hält. Das sei fast schon so abfällig wie Gerhard Schröders einstige Einordnung der Familienpolitik als Gedöns, sagen Koalitionäre. Nein zu jeglicher Form von Pflichtdienst und die offensive Unterstützung für Fdp-finanzminister Christian Lindner sei ein Scholz’scher Doppelwumms gegen Pistorius, der seit Monaten in Umfragen als beliebtester Politiker geführt wird. Weit vor Scholz.
Spd-fraktionschef Rolf Mützenich hatte Scholz geraten, er solle sich nun für sozialdemokratische Ziele „genauso einsetzen wie für den Koalitionsvertrag“. Nach zweieinhalb Jahren Regierung könne der Kanzler „sich jetzt freier machen“. Der Sparkurs von Lindner und das Herumlavieren von Scholz um die Schuldenbremse lehnen viele in der Fraktion ab, den Kurs von Pistorius’ „Kriegstüchtigkeit“allerdings aus. Dafür streichelt Scholz mit dem Ruf nach 15 Euro Mindestlohn oder dem Beharren auf der abschlagsfreien Rente nach 45 Versicherungsjahren die sozialdemokratische Seele, aber irritiert Verteidigungspolitiker mit seinem Nein zu Taurus-marschflugkörpern für die Ukraine. Es fehlt an gemeinsamer Linie.
Und Pistorius polarisiert. Er hat viele Fans, aber auch Neider, und in der Spd-spitze sorgt er mit seinen forschen Vorstößen für Unmut. Er spreche sich nicht ab, auch nicht mit Scholz, verlautet von Spd-oberen. Solle er sich nicht wundern, dass der Kanzler da die Bremse reinhaue. Pistorius Äußerung, er müsse das hier nicht machen, sei unklug gewesen. Denn nun müsse geklärt werden, was „das hier“ist. In der SPD wird betont, dass er nicht mit Rücktritt gedroht habe, bei den Grünen hält man das für die Verteidigung seiner Forderungen. Aber die Deutung der FDP könnte die einfachste sein. Er habe schlicht sagen wollen „Eure Kritik ist mir wurscht“, sagt ein Fdp-bundestagsabgeordneter.
Pistorius erklärt sich selbst am Donnerstagnachmittag bei einer Pressekonferenz mit seinem litauischen Amtskollegen Laurynas Kasciunas und fühlt sich zu einem Bekenntnis genötigt: „Um das klar sagen: Ich habe immer noch großen Bock auf diesen Job.“In einer impulsiven Diskussion sage man auch schon mal „das eine oder andere“. Er sei doch auch bekannt für zugespitzte Formulierungen. Wohl wahr.
Anfang des Jahres soll es kräftig gekracht haben mit dem Kanzleramt. Pistorius hatte der „Bild“-zeitung auf die Frage, ob er im Fall der Fälle die Kanzlerschaft übernehmen würde, geantwortet: „Eine Fußballmannschaft, die gegen den Abstieg spielt, die unter Druck steht, schmeißt den Trainer vielleicht raus, aber wirft nicht die Systeme durcheinander. Ein guter Verein schmeißt nicht per se den Trainer als Erstes raus.“Die Ampel als Abstiegsmannschaft, die vielleicht den Kanzler rausschmeißt, aber nichts als Erstes – Scholz habe sich Pistorius vorgeknöpft, heißt es im Umfeld des Ministers, was im Kanzleramt bestritten wird. Aber recht einhellig wird gesehen, dass Pistorius hätte antworten müssen: „Olaf Scholz ist und bleibt Bundeskanzler.“Und wiederum hätte Scholz auf die Frage nach der Wehrpflicht einfach sagen sollen: „Wir haben einen Verteidigungsminister, der dazu einen geeigneten Vorschlag vorlegen wird.“
Fans und Neider