Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld mit Oerlinghausen
Monster auf dem Rochdale-gelände
Die Theatertruppe „Canaillen Bagage“inszenierte eine märchenhafte wie unterhaltsame Adaption des mythologischen „Leviathans“. Es war der kulturelle Auftakt des Rochdale-sommers.
Bielefeld. Er ist schrecklicher als Hannibal Lecter und Darth Vader zusammen, nicht einmal der Grinch kommt an ihn ran, aber wie dieser sucht Leviathan einmal im Jahr ein Bergdorf heim, um von den Bewohnern eine Opfergabe in Gestalt einer holden Jungfrau zu erpressen. Rauch steigt aus seinen Nüstern, Flammen aus dem Schlund seiner drei Köpfe. Ein Albtraum für die Dorfbewohner – und das seit 400 Jahren. Nun bietet diese fürchterliche Echse auch eine Art Sicherheit, Kontinuität und Stabilität, sehr im Interesse des hypochondrisch veranlagten Bürgermeisters („Ich erzähl’ mir selber längst nicht mehr die Wahrheit“).
Eines Tages schaut der Fremdling Tristan vorbei und verspricht, dem Drachen den Garaus zu machen. Das ist die Geschichte, die das Laientheater Canaillen-bagage zum Auftakt des Rochdale-sommers nun in der ehemaligen Kaserne an der Oldentruper Straße erzählte.
Eine Märchen-komödie sehr frei nach der literarischen Vorlage des russischen Literaten Jewgeni Schwarz, welcher sich an der jüdischen Mythologie orientierte. In seiner Vorlage taucht tatsächlich ein Ritter Lanzelot als Retter auf, es hätte auch ein Siegfried sein können. Die Geschichte jedenfalls ist bekannt und gleichsam beliebt im Land.
Was aber das Ensemble daraus macht, ist aller Ehren wert: der Bürgermeister-sohn Kasimir will das weibliche Menschenopfer namens Aleid eigentlich heiraten, Kater Mariechen (ja, richtig gegendert) moderiert die Handlung als Haustierchen von Madame Papillon,
die wiederum und erst am Ende des Stücks den Bürgermeister, der zum kerngesunden Präsidenten mutiert und den Stuhl im Rathaus seinem Sohn überlässt, ehelicht. Happy End . . . oder auch nicht.
Was ist mit dem edlen Tristan? Bürgermeister Anselm Krull möchte den Status quo im Dorf beibehalten, eine Jungfrau im Jahr kann er verkraften. Die Dorfbewohner hingegen erkennen die Chance, der Tyrannei des Drachens zu entkommen – endgültig – und versorgen ihn mit Waffen: ein Schwert, ein Nachttopf, ein fliegender Teppich und eine Tarnkappe. Im Luftkampf über den Rochdale-kasernen bezwingt der fahrende Abenteurer Tristan die feuerspeiende Hydra Leviathan, kommt aber im Gefecht selbst um.
Dem Publikum wird ein musikalisches Open-airtheaterstück mit menschlichen Ungeheuern und ungeheuren Menschen, gemütskranken Bürgermeistern, intriganten Sekretären, einem drakonischen Drachen, der als Gestaltwandler die menschliche Form perfektioniert hat, und einem wahren Helden, der sich dem Trugbild entgegenstellt, präsentiert mit der finalen Botschaft: „Des Menschen Schicksal ist der Mensch!“Wer sich das nicht entgehen lassen möchte, hat am Samstag, 29. Juni, im Historischen Museum im Ravensberger Park erneut die Gelegenheit dazu. Spoiler am Schluss: Vergesst nicht Tristans Tarnkappe.
Das Kasernengelände im Bielefelder Osten entwickelt sich allmählich. Eine Beachvolleyball-anlage und drei Basketballfelder werden dort bereits genutzt während der Öffnungszeiten des Areals arbeitstäglich zwischen 15 und 20 Uhr, sowie samstags ab 10 Uhr. Ein Pumptrack zum Roller- und Radfahren wird in den nächsten Wochen aufgebaut. Immer mittwochs ab 18 Uhr gibt es einen „Quatschgarten“, ein Plauderstündchen für alle. „Und auch kulturell wird im ‚Rochdale-sommer 2024‘ noch einiges passieren“, kündigt die Koordinatorin Kerstin Große-wöhrmann an.