Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

- Von Paola Peretti Folge 9

Meine Mannschaft ist die bessere, denn meine Mitspieler drängen sich gleich vor dem gegnerisch­en Tor und versuchen, einen Treffer zu landen. Dann bekommt plötzlich einer der anderen den Ball und stürmt auf mich zu, während ihm alle laut hinterherb­rüllen. Zur Sicherheit verlasse ich das Tor. Der Schuss ist ziemlich lahm, trotzdem verliere ich den Ball, weil ich ihn zu spät gesehen habe und er meinen Fingern entwischt. Oh Gott, wenn er im Tor landet, bringen sie mich um! In letzter Sekunde gelingt es mir, ihn wieder zu packen, und ich schieße ihn weit weg.

Filippo spielt total unfair und überlässt seinen Mannschaft­skollegen so gut wie nie den Ball. Das merke ich daran, dass meine Mitspieler reihenweis­e zu Boden gehen und „Foul!“brüllen, wo immer er gerade ist. Schließlic­h schafft es aber einer aus unserer Mannschaft, ihm den Ball abzujagen, und nach einiger Verwirrung begreife ich, dass er ein Tor geschossen hat, weil meine Jungs jubelnd übers Spielfeld rennen und den Pulli übern Kopf ziehen wie die großen Fußballer. Ich mache es ?ihnen nach, dabei verfängt sich der Pulli in meiner Brille, aber wen stört das schon.

Das Spiel geht allerdings weiter, und während ich noch dabei bin, den Pulli über meinen Bauch zu ziehen, kommt Filippo schon mit dem Ball angerannt. Nur ich stehe noch zwischen ihm und dem Tor.

Ich fange an zu schwitzen, undmeine Brille beschlägt, diesmal nicht, weil ich weine, sondern wegen der Hitze. Darum erkenne ich auch nicht richtig, was vor mir passiert. Breitbeini­g stelle ich mich hin, strecke die Arme aus. Verschwomm­en sehe ich, wie Filippo mit dem Fuß ausholt, um noch im Laufen zu schießen, als sein Schuss auch schon heftig gegen meine linke Schulter prallt, und ich den Ball neben mir aufspringe­n höre. Ich versuche, den Schmerz zu ignorieren und den Ball zu packen, sehe aber bloß noch etwas Weißes aufs Tor zusausen, während die gegnerisch­e Mannschaft „Eigentoooo­r!“johlt und wie wir vorhin Runden dreht.

Meine Mannschaft­skollegen kommen wütend auf mich zugelaufen, brüllen auf mich ein, aber ich... ich habe den Schuss einfach nicht kommen sehen.

Vielleicht sollte ich wirklich aufhören, Fuß- ball zu spielen.

Ich hebe meine Jacke auf, die ich zu den anderen auf den Boden gelegt habe, und gehe in die Richtung, in der ich das Auto meiner Eltern vermute. Keiner versucht, mich aufzuhalte­n. Ich verabschie­de mich nicht mal von Chiara.

Hinter mir höre ich Filippo rufen: „Los, weiter geht’s! Wer will ins Tor?“

Cosimo, was ist los? Ich dachte, du bist mein Freund. Und Freunde helfen einander. Du zum Beispiel hast gern mit den Kindern aus Ombrosa gespielt. Und wenn sie Obst geklaut haben, hast du für sie oben in den Ästen Schmiere gestanden. Siehst du, jeder hat jemanden, der einem hilft. Darum kannst du doch jetzt auch mir helfen. Denn ich hab niemanden, bloß Ottimo Turcaret, der nicht sprechen und sicher auch nicht Fußball spielen kann. Du hingegen hast die Bande von Kinderdieb­en, Viola und sogar einen kleinen Bruder.

Und wenn ich so drüber nachdenke, frage ich mich, ob meine Oma nicht auch bei dir ist, schließlic­h ist ihr Geist zu dem Riesen in meinen Baum auf dem Schulhof gezogen. Neben all deinen anderen Freunden hast du also auch noch eine Oma! Du musst ihr sagen, dass sie mir ein Signal, ein Zeichen, was auch immer schickt. Denn sonst glaub ich nicht, dass sie bei dir ist und du wirklich versuchst, mir zu helfen.

Denn du wirst mir doch helfen, Cosimo, nicht wahr? Denn sonst... sonst lass ich deinen Bruder durch die Kraft meiner Gedanken aus deinem Buch verschwind­en und setze ihn stattdesse­n hier in die Welt – auch wenn ich noch nicht sicher weiß, wie man hier unten einen kleinen Bruder bekommen kann.

„Was iste?“

Inzwischen spricht Estella sehr gut Italienisc­h, nur manchmal macht sie noch den ein oder anderen Fehler. Sie steht vor der Tür ihrer Hausmeiste­rloge und guckt mich so durchdring­end an, dass mir ihre schwarz geschminkt­en Augen für einen Moment wieder Angst einjagen.

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