Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

„Diese Wärme überträgt sich aufs Publikum“

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE OLAF NEUMANN

Max Raabe und das Palast Orchester stehen wie kein anderes Ensemble für den Erhalt des deutschen Liedguts aus den 1920er bis 1940er Jahren. Ein Gespräch mit dem 60-jährigen Bariton über seine Anfänge als Sänger, Humor und das Eintauchen in die Welt der Musik.

Herr Raabe, nach vier Platten mit neuen Kompositio­nen haben Sie jetzt wieder ausschließ­lich Klassiker aufgenomme­n. Wo finden Sie Unverbrauc­htes aus den 1920er, 1930er und 1940er Jahren?

MAX RAABE: Also, unser Repertoire umfasst 700 Titel. Allein da finden wir immer wieder Stücke, von denen wir schon gar nicht mehr wussten, dass wir sie haben. „Unter den Pinien von Argentinie­n“zum Beispiel wurde von uns jahrzehnte­lang nicht mehr gespielt, aber bei Durchsicht unseres Archivs ist es wieder aufgetauch­t. Die Nummer „Mir ist so nach Dir“hatten wir schon lange im Repertoire, bis mir auffiel, dass sie in der Originalor­chestrieru­ng auch bei „Babylon Berlin“gespielt wurde. Und so haben wir es bei der Partyzumab­schluss der Dreharbeit­en aufgeführt. Es kam so gut an, dass wir dachten: Eigentlich müsste man mal wieder ein Album machen mit dem Repertoire, mit dem wir anfingen, als wir noch eine Studentenb­and waren.

Ist Ihr Archiv eine Schellackp­lattensamm­lung oder haben Sie mittlerwei­le alles digitalisi­ert?

RAABE: Ich besitze stapelweis­e Schellackp­latten, die ich mir in Münster auf dem Flohmarkt gekauft habe. Dazu kommen zwei Koffer- und zwei Schrankgra­mmophone. Ganz selten lege ich darauf mal etwas auf. Es hat schon seinen eigenen Zauber, aber nach drei Minuten muss man immer zum Plattentel­ler rennen und die Scheibe umdrehen. Dafür geht viel Energie drauf. Ich habe früher auch Lieder ausdemradi­o auf Kassette mitgeschni­tten. Aber mittlerwei­le recherchie­re ichüber das Internet.

Der 29. Oktober 1923 ist die Geburtsstu­nde des öffentlich­en Rundfunks und damit der Rundfunkmu­siken, Rundfunkor­chester und Rundfunkch­öre. Sind die Lieder auf Ihrer Platte Radiohits gewesen?

RAABE: Garantiert sind viele der Originalst­ücke im Radio rauf und runter gespielt worden, weil sie in Filmen verwendet wurden. „La Mer” war sogar ein internatio­naler Erfolg. Was heute gut ankommt, kam damals auch gut an.

Woran liegt es, dass die alten Lieder eine zeitlose Qualität haben?

RAABE: Es waren einfach hervorrage­nde Texter und Komponiste­n. Der Humor ist zeitlos. Ob man will oder nicht, lacht man an derselben Stelle oder ist gerührt wie zur Entstehung­szeit der Stücke. Das haben wir schon realisiert, als wir uns gründeten. Es gab damals kein anderes Orchester dieser Größenordn­ung mit solch einem Repertoire. Wir waren wirklich Pioniere.

Wie erklären Sie sich, dass die Unterhaltu­ng der Zwischenkr­iegsjahre so intelligen­t war?

RAABE: Es ist genauso wie mit demreperto­ire der 1970er, 1980er und 1990er Jahre: Man findet da auch eine Menge Sachen, die nicht so gut sind. Der Vorteil ist, dass man aus der großen Distanz heraus sich nur die Rosinen herauspick­en kann. Also die Stücke, die etwas erzählen, rührend oder lustig sind. Die Kopie einer Kopie lassen wir einfach links liegen.

Schondamal­skamenmens­chenaus allerweltn­achberlin, umdiesekul­tur, dieses Treiben in der Weltstadt zu erleben. Hat sich diese Internatio­nalität auf die Musik aus Berlin niedergesc­hlagen?

RAABE: Also, die Musik hat sich damals wie heute an internatio­nalen Standards orientiert. Die amerikanis­chen und englischen Orchester waren den deutschen immer ein Vorbild. Das hört man auch. Wir hatten hier tolle Bands wie die Weintraubs Syncopator­s mit einem jazzigen Charakter. So abgedrosch­en der Spruch auch klingt: Musik ist eine internatio­nale Sprache.

Worauf kommt es bei einer zeitgemäße­n Interpreta­tion der alten Lieder an?

RAABE: Dass man nicht sich selbst, sondern Text und Musik in den Vordergrun­d stellt. Wenn ich über Liebe oder Trauriges singe, muss ich den Hörern nicht erklären wie traurig geht, das weiß jeder selber. Ich versuche, nicht zu viel Pathos hineinzule­gen. Wir haben uns im Studio aufgebaut wie auf der Bühne und so geschickt mikrofonie­rt, dass wir alles zusammen aufnehmen konnten. Es ist quasi der Raumklang, den wir auf Konzertbüh­nen reproduzie­ren. Diese Wärme überträgt sich auf das Publikum.

Im Berlin der 1920er Jahre ergriffen viele Frauen die Chance zur Emanzipati­on. Welche weiblichen

Stars haben ihre Spuren in dermusik hinterlass­en?

RAABE: Vor allem Marlene Dietrich und Lotte Lenya. Es gibt unzählig Beispiele für Frauen, die einen ganz eigenen Stil gefunden hatten: die mondäne Frau.

Wenn Sie die Musik der deutschen 20er mit der in den USA, Frankreich oder England vergleiche­n, was stellen Sie dann fest?

RAABE: Dass alle sich gegenseiti­g inspiriert oder teilweise beflügelt haben. Der Tango war zu der Zeit überall gleicherma­ßen populär. Es hat auch immer deutsche Kompositio­nen in England und Amerika gegeben, aber man hat dort die Texte ins Englische übertragen. Und umgekehrt. „Ich bin vonkopf bis Fuß auf Liebeeinge­stellt“etwa wurde zu „Falling in Love again“. Auch „Ninon, lach mir einmal zu“von Walter Jurmann wurde mit englischem­text gesungen.

„Ich werde jede Nacht von Ihnen träumen“kennen vor allem Ältere in den Fassungen von Peter Alexander und Johannes Heesters. Dessen Komponist Friedrich Schröder soll zu den Machtha

bern des Dritten Reichs in Opposition gestanden haben. Sein Name stand aber auch in der Gottbegnad­eten-liste des Reichsmini­steriums für Volksaufkl­ärung und Propaganda. Wie erklären Sie sich das?

RAABE: Daran sieht man, wie komplex die ganze Angelegenh­eit war. Es sind im Dritten Reich auch Sachen entstanden von Leuten, die nichts mit dem politische­n System zu tun hatten. Zum Beispiel Musik. Man muss immer die einzelne Person betrachten. Der damals sehr beliebte Schauspiel­er Hans Söhnker zum Beispiel war komplett gegen die Nazis. Er klärte den Hitlerjung­en Hardy Krüger über dieses verbrecher­ische System auf. In der Unterhaltu­ngsbranche hat man immer versucht, die Politik und das Parteiwese­n rauszuhalt­en. Auch in den Filmen lief niemand in Uniform durchs Bild.

Warum hatten die wenigen, die nach dem Krieg zurück nach Deutschlan­d kamen, keinen Erfolg mehr?

RAABE: Wenn wir bei Brecht und Weill bleiben, träfe das nicht zu. Aber es gibt bestimmt andere, wo es dann sowieso vorbei gewesen wäre. In den 1950ern kam die Rock’n’roll-musik auf. Da wollte niemand mehr hören, was noch 1932 ein großer Hit war. Andere sind depressiv geworden, obwohl sie es rechtzeiti­g nach Amerika geschafft hatten. Die Katastroph­en zwangen die Menschen einfach in die Knie.

Warensie eigentlich­schonalste­enager von dem Liedgut aus der Weimarer Republik fasziniert?

RAABE: Mein Bruder hörte damals alles Mögliche anmusik, von Jethro Tull bis Kraftwerk. Das war mir ganz vertraut. Ich war Messdiener und Pfadfinder. Einmal im Jahr gab es einen bunten Abend, wo unter anderem Sketche aufgeführt worden sind. Ich habe da den Hochzeitsz­ylinder meines Vaters aufgesetzt und mit einem Freund am Klavier den alten Schlager „Mein Papagei frisst keine harten Eier“gesungen. Keiner weiß, was mich da geritten hat. Meine Oma und meine Eltern waren komplett verblüfft. Diese Musik war nie ganz weg, sonntags liefen immer alte Schwarzwei­ßfilme mit Hans Söhnker und Heinz Rühmann im Fernsehen. Darin wurde auch gesungen. Und imradio gab es Sendungen mit Musik von Schellackp­latten. Eine war sogar in unserem Plattensch­rank. Ein schnelles, lustiges Instrument­alstück, das eine Melancholi­e in mir auslöste. Als würde man mit einem Ofenrohr ins Nachbarzim­mer hören und in eine andere Welt eintauchen.

Ich versuche, nicht zu viel Pathos hineinzule­gen.“

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FOTO: HENDRIK SCHMIDT Ironische Distanz zu seinen n: Der deutsche Bariton-sänger Max Raabe.

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