Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

Man vergisst nicht, wie man schwimmt

- VON CHRISTIAN HUBER

1. Fortsetzun­g

Obwohl der Morgen kühl war, spürtemanb­ereits, dass das Thermomete­r wieder zu steigen begonnen hatte. Der letzte Tag dieses Augusts 1999 würde noch einmal ein heißer Sommertag. Nochmalstr­opisch, hatte es im Wetterberi­cht geheißen. Scheiße! Die Hitze mochte ich einfach nicht. Ich mochte den Sommer nicht mehr, seit ich nicht mehr schwimmen konnte.

Mein Oberkörper spiegelte sich in der Glasscheib­e des offen stehenden Fensters. Ich drehte mich schnell weg und zog den Vorhang zu. Staub wirbelte im Licht wie ein Krillschwa­rm, ich in der Mitte wie ein Wal. Wie in der Naturdoku gestern. Ozeane. Krasse Bilder. Wobei nach einem halben Joint, musste ich zugeben, alles auf meinem Röhrenfern­seher krasse Bilder waren.

Ein Auge zugekniffe­n, das andere einen schmalen Spalt geöffnet, suchte ich den Weg zurück unter meine dünne Decke. Die Schatten des Vorhangsto­ffs bewegten sich an der Wand. Ein Postervono­asis hing über meinem Schreibtis­ch. Auf einem Tischchen von IKEA lagen eine Casio-uhr und ein Aschenbech­er. Krümel von Tabak und Gras waren auf einem Katalog verstreut.

Die zerschliss­ene Kunstleder­couch musste ich mal wieder abwischen, meine CDS, die gebrannten­und die Originale, und die ganzen Tapes in den Ständer sortieren.

In meinem Regal lehnten die Bände von Der Herr der Ringe, ein Zinnsoldat mit abgesplitt­ertem Lack stand neben einem Game Boy mit Tetris und einer gerahmten Urkunde: Zweiter Platz Schwimmmei­sterschaft. Gott, da war ich zehn. Warum hebt man so einen Müll auf?

Der Lattenrost knarzte, als ich mich auf der Matratze einrollte, um weiterzutr­äumen. Es musste etwa sieben sein. Durch die Pressholzt­üren unserer Mietwohnun­ghörteich, wiesich meine Mutter im Bad fertig machte. Doppelschi­cht. Im Kühlschran­k würde ein Teller mitbrotenf­ürmichsteh­en, zehn

Mark lagen auf dem Küchentisc­h, wie immer, das wusste ich. Dazu meistens ein Notizzette­l. Wir unterhielt­en uns so gut wie nur noch über Notizzette­l, seit sie in der Reinigungs­firma die Extraschic­hten übernommen hatte. Seit mein Vater weg war.

Denk bitte an den Müll, Pascal.

Ja.

Ich übernachte heute auswärts, Pascal!

Ja.

Ich hab dich lieb, Pascal. Boah ey, Mama, ja . . . Ich dich auch.

Die Wohnungstü­r fiel ins Schloss. Schnelle Schritte hetzten durch das Treppenhau­s. Drei Versuche brauchte der klapprige Fiat Panda, bis er ansprang und mit knallendem Auspuff Richtung Autobahn heizte, dann war es still. Irgendwo zwitschert­en Vögel, die Glocken der Kirche läuteten vomentfern­ten Marktplatz, und ich merkte, wie ich wieder einschlumm­erte. Schnell einschlumm­ern! Bevor es wieder zu warm wurde. Bevor der Traum weg war. Bevor mir der Kopf wieder zu schwirren begann.

Genieß den Tag, Pascal!, stand manchmal auf den Zetteln. Und mit einem Smiley: Carpe Diem! Carpe Diem. Witzig. In Latein war ich dieses Jahr umein Haar durchgefal­len. Und außerdem: Ich genoss jeden Tag. Ich carpte alles raus aus dem Diem. Schlafend. Bis Mittag. Wennes mit der Hitze ging. Was hätte ich in den Sommerferi­en in meinem Heimatkaff auch anderes machen sollen, außer zu schlafen? Schlafen und träumen waren für mich das Beste. Am liebsten wäre ich gar nicht aufgestand­en. Ichwäreger­neliegen geblieben, bis ich endlich erwachsen war.

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany