Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
1. Fortsetzung
Obwohl der Morgen kühl war, spürtemanbereits, dass das Thermometer wieder zu steigen begonnen hatte. Der letzte Tag dieses Augusts 1999 würde noch einmal ein heißer Sommertag. Nochmalstropisch, hatte es im Wetterbericht geheißen. Scheiße! Die Hitze mochte ich einfach nicht. Ich mochte den Sommer nicht mehr, seit ich nicht mehr schwimmen konnte.
Mein Oberkörper spiegelte sich in der Glasscheibe des offen stehenden Fensters. Ich drehte mich schnell weg und zog den Vorhang zu. Staub wirbelte im Licht wie ein Krillschwarm, ich in der Mitte wie ein Wal. Wie in der Naturdoku gestern. Ozeane. Krasse Bilder. Wobei nach einem halben Joint, musste ich zugeben, alles auf meinem Röhrenfernseher krasse Bilder waren.
Ein Auge zugekniffen, das andere einen schmalen Spalt geöffnet, suchte ich den Weg zurück unter meine dünne Decke. Die Schatten des Vorhangstoffs bewegten sich an der Wand. Ein Postervonoasis hing über meinem Schreibtisch. Auf einem Tischchen von IKEA lagen eine Casio-uhr und ein Aschenbecher. Krümel von Tabak und Gras waren auf einem Katalog verstreut.
Die zerschlissene Kunstledercouch musste ich mal wieder abwischen, meine CDS, die gebranntenund die Originale, und die ganzen Tapes in den Ständer sortieren.
In meinem Regal lehnten die Bände von Der Herr der Ringe, ein Zinnsoldat mit abgesplittertem Lack stand neben einem Game Boy mit Tetris und einer gerahmten Urkunde: Zweiter Platz Schwimmmeisterschaft. Gott, da war ich zehn. Warum hebt man so einen Müll auf?
Der Lattenrost knarzte, als ich mich auf der Matratze einrollte, um weiterzuträumen. Es musste etwa sieben sein. Durch die Pressholztüren unserer Mietwohnunghörteich, wiesich meine Mutter im Bad fertig machte. Doppelschicht. Im Kühlschrank würde ein Teller mitbrotenfürmichstehen, zehn
Mark lagen auf dem Küchentisch, wie immer, das wusste ich. Dazu meistens ein Notizzettel. Wir unterhielten uns so gut wie nur noch über Notizzettel, seit sie in der Reinigungsfirma die Extraschichten übernommen hatte. Seit mein Vater weg war.
Denk bitte an den Müll, Pascal.
Ja.
Ich übernachte heute auswärts, Pascal!
Ja.
Ich hab dich lieb, Pascal. Boah ey, Mama, ja . . . Ich dich auch.
Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Schnelle Schritte hetzten durch das Treppenhaus. Drei Versuche brauchte der klapprige Fiat Panda, bis er ansprang und mit knallendem Auspuff Richtung Autobahn heizte, dann war es still. Irgendwo zwitscherten Vögel, die Glocken der Kirche läuteten vomentfernten Marktplatz, und ich merkte, wie ich wieder einschlummerte. Schnell einschlummern! Bevor es wieder zu warm wurde. Bevor der Traum weg war. Bevor mir der Kopf wieder zu schwirren begann.
Genieß den Tag, Pascal!, stand manchmal auf den Zetteln. Und mit einem Smiley: Carpe Diem! Carpe Diem. Witzig. In Latein war ich dieses Jahr umein Haar durchgefallen. Und außerdem: Ich genoss jeden Tag. Ich carpte alles raus aus dem Diem. Schlafend. Bis Mittag. Wennes mit der Hitze ging. Was hätte ich in den Sommerferien in meinem Heimatkaff auch anderes machen sollen, außer zu schlafen? Schlafen und träumen waren für mich das Beste. Am liebsten wäre ich gar nicht aufgestanden. Ichwäregerneliegen geblieben, bis ich endlich erwachsen war.
(Fortsetzung folgt)