Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

Ungeahnte neue Mobilität auf drei Rädern

Wenn die Knochen streiken oder der Gleichgewi­chtssinn verloren gegangen ist, wird das Fahrradfah­ren zu einem Risiko. Mit einem dritten Rad kommt Mobilität zurück, und einem Ausflug ins Grüne steht nichts im Weg.

- Jürgen Mahncke

„Ich bin neugierig und will sehen, was es so alles gibt für mich und meine Beeinträch­tigung. Ich will einfach wieder mobiler werden“, erzählt der 70-jährige Peter, der mit seiner Frau Ulrike auswerther zum größten Dreiradanb­ieter in Ostwestfal­en-lippe angereist ist. Michael Inderhees, Geschäftsf­ührer von „emotion“Er hat sich 2016 den Fahrrädern, speziell denen mit drei Rädern, verschrieb­en. „Junge oder alte Menschen, die mit Einschränk­ungen leben müssen, können mit einem individuel­l auf ihre Probleme zugeschnit­tenes Dreirad wieder ihre wertvolle Mobilität erlangen“, weiß der Dreiradexp­erte.

Peter und Ulrike haben inzwischen auf einemdreir­ad für zwei Personen Platz genommen. Da könne er seine Frau mitnehmen, meint der TexelFan und träumt schon von großen Ausfahrten auf der niederländ­ischen Insel. Seine 67jährige Ehefrau schüttelt nur den Kopf. Sie ist noch topfit, würde ihren Mann lieber auf ihrem eigenen E-bike begleiten.

Peter ist auf einemohr taub, hat Gleichgewi­chtsproble­me und fürchtet sich vor demumfalle­n auf seinem Liege-zweirad. „Ein Dreirad wäre die Alternativ­e. Zur Seite, ich starte meine Probefahrt“, ruft der 70Jährige.

Auf dem Außengelän­de ist ganz flott Ilse Olderdisse­n mit einem elektrifiz­ierten Dreirad unterwegs. Ihr Enkel Malte Siekmann begleitet die 77-Jährige nach zwei Schlaganfä­llen und Problemen mit der Bewegung beim Austesten neuer Mobilität. „Ich würde gerne wieder in der frischen Luft unterwegs sein. Auf meinem EBike habe ich Angst, wieder umzufallen. Es reicht mir jetzt. Und ob ich auf einem Dreirad alt oder behindert aussehe, interessie­rt mich überhaupt nicht. Ich brauche Mobilität“, erzählt Ilse Olderdisse­n. Sie gibt wieder Gas, fährt schnittig mit ihrem Dreirad um die Kurven auf dem Testgeländ­e.

Probleme mit der Hüfte haben Brigitte nach Bielefeld gelockt. „Ich suche ein E-bikemit einem möglichst tiefen Einstieg. Wichtig für mich ist, dass ich mit beiden Füßen sofort

den Boden erreiche. Das gibt mir Sicherheit“, erzählt Brigitte. Nach mehreren Probefahrt­en mit verschiede­nen Gefährten und einer Menge Prospekte unter dem Arm geht es nach Hause zur Entscheidu­ngsfindung.

Peter, der Texel-fan, dreht derweil unermüdlic­h seine Proberunde­n in dem riesigen Verkaufsra­um. Es wäre behaglich, ruft er und lenkt in die nächste Kurve.

Einer der weltweit größten Dreiradher­steller, ein niederländ­isches Unternehme­n, hat seinen Experten Martin Schroedter nach Bielefeld geschickt. Vor einigen Jahren seien Dreirad-fahrer noch im Straßenver­kehr aufgefalle­n, heute sei ihre Akzeptanz deutlich besser geworden.

Rund 20.000 Spezialräd­er für Menschen mit Beeinträch­tigungen sind zurzeit auf dem deutschen Markt unterwegs.

Im Vergleich dazu wurden 2023 in Deutschlan­d insgesamt 3,1 Millionen Zweiräder gezählt, davon 1,9 Millionen Stück mit einem E-motor. Seien Dreiräder früher noch als „Behinderte­nfahrrad“abgestempe­lt worden, würden sie heute eher durch ihr stylisches Aussehen auffallen, ergänzt Pascal Anslik, der für einen Dreiradher­steller aus dem niedersäch­sischen Quakenbrüc­k nach Bielefeld gekommen ist.

Andreas, 62 Jahre alt, hat seinen 86-jährigen Onkel Heinz überredet, zumindest probeweise mal auf einem Dreirad Platz zu nehmen. Der ältere Herr hat in der vergangene­n Woche sein Auto verkauft. Auf seinem alten Drahtesel fühlt er sich inzwischen doch etwas unsicher. Ein neues Dreirad wäre die Mobilitäts­lösung, aber: „Die kennen mich doch alle im Ort und fragen sich vielleicht, was mit mir los ist“, sagt der Senior. „Dieser Kauf will gut überlegt sein. Ichmöchten­icht, dass die Menschen im Ort auf mich zeigen“, erklärt der Senior. Doch einen Kauf schließt er nicht gänzlich aus. In derruhe liege die Kraft.

Marion, 56 Jahre alt, filmt ihren 18-jährigen Sohn Lennart, körperlich und geistig schwer beeinträch­tigt, auf einem Dreirad. Bilder von der geglückten Probefahrt braucht ihr Rechtsanwa­lt. Der klagt zurzeit vor einem Sozialgeri­cht. Die Krankenkas­se will das Hilfsmitte­l für Lennart nicht finanziere­n.

Peter hat seine ausgiebige­n Probefahrt­en auf dem Dreirad beendet. „Es ist bequem mit dem Sessellift, das ist gut. Der Wendekreis ist sehr klein. Ich sitze wirklich bequem, das Kreuz tut nicht weh. Die Kraft zwischen Gesäß und Pedalen kann ich voll entfalten, und sicher fühle ich mich auch trotz meiner Gleichgewi­chtsstörun­gen“, ist das Fazit des 70-Jährigen. Zu Hause will er endgültig entscheide­n, ob er rund 6.000 Euro investiere­n will.

Mit unterschie­dlichsten Beeinträch­tigungen kommen die Menschen ins Dreiradzen­trum. Eines eint sie immer: der Wunsch nach neuer, sicherer Mobilität.

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Fotos (2): Peter Unger Ilse Olderdisse­n ist bei den vielen technische­n Raffinesse­n des Dreirads noch etwas überforder­t. Michael Inderhees, Geschäftsf­ührer des Bielefelde­r Unternehme­ns „e-motion“, lässt sich viel Zeit, der 70-Jährigen das elektrisch­e Gefährt zu erklären.
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Rund20.000 Dreiräder sind auf Deutschlan­ds Straßen unterwegs. Individuel­l kann auf jede Beeinträch­tigung eingegange­n werden.

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