Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

Man vergisst nicht, wie man schwimmt

- Von Christian Huber

Das war mein großer Wunsch: Dass die Zeit verging. Die Zeit konnte mir gar nicht schnell genug vergehen.

Schlaf, dachte ich.

Dieses Kaff, indemich seit meiner Geburt lebte, hieß Bodenstein und war exakt, wie man es sich vorstellt. Bayerische Provinz eine Stunde von der tschechisc­hen Grenze. Keine neuntausen­d Einwohner. Aufgeplatz­te Straßen, kein Einzugsgeb­iet von irgendwas und hohe Arbeitslos­igkeit. Ein baufällige­s Freibad, ein Skatepark mit zugetaggte­r Halfpipe. Das Sportheim gehörte den Nazis, der Stadtpark den Hunnen. Die erfolgreic­hste Vereinsman­nschaft waren die Schützen. Einmal im Jahr gab es die Kirmes, einmal das Starkbierf­est. Manchmal tingelte irgendein Zirkus vorbei. Das war’s. Das war Bodenstein. Die Stadt, in der nichts passierte. Hier war nicht einmal der Hund verreckt. Wenn hier ein Hund verreckt wäre, wäre das die Titelseite der Lokalzeitu­ng gewesen. Extrablatt, Extrablatt!, verteilt von einem Jungen mit Knickerboc­ker, Schiebermü­tze und Fingerkupp­en voll Druckersch­wärze. Macht sieben Pennies, Sir.

In der Tat gab es nur eine Handvoll Geschichte­n, die sich je in Bodenstein zugetragen hatten. Mal hatte ein Waldarbeit­er behauptet, ein Krokodil gesehen zu haben. Die Aufdeckung eines Autoschieb­errings hatte es in die überregion­alen Nachrichte­n geschafft. Und aus einer Geschichte hatte ich das gemacht:

DIE HUNNEN UND DIE WEED-PLANTAGE

Der Schnee knirscht unter Daves Air Max. Der Teich im Park ist eisbedeckt.

„Hier holst du immer was?“, fragt Horst und stellt den Kragen seines Parkas hoch. Horst ist der neue Freund von Daves Mutter. Der erste coole.

Gestern haben sie Pulp Fiction geschaut, und Horst hat erwähnt, dass er gerne mal einen durchzieht. Und ob er mitkann, wenn Dave das nächste Mal was holt. Ja, komm, warum eigentlich nicht. Jetzt stehen sie im Bodenstein­er Stadtpark bei minus tausend Grad und warten auf die Hunnen. Denn wenn du in Bodenstein was zu rauchen willst, gehst du zu den Hunnen.

Die Hunnen, das sind Russen, Ungarn, Polen, Deutsche und einer aus dem Sudan. Nennen sich: Die Hunnen. Ist wie eine Gang. Anders als bei den Nazis. Die Nazis sind nur Nazis.

„Braucht ihr?“Einer der Hunnen steht vor ihnen. Er ist aus den Büschen gekommen, aus der Ecke mit den Parkbänken mit den eingeritzt­en Liebesschw­üren.

„Für fünfzig“, sagt Dave.

Der Hunne verzieht den Mund. „Gerade schlecht“, sagt er. „Müssen zur Plantage.“

Die Hunnen haben eine versteckte Marihuanap­lantage. Unten an der Naab, am Fluss. Das Problem ist, dass der Hunne gerade kein Auto hat. Und dass er gar nicht mehr fahren kann. Die Hunnen ballern gerne selber was, und da ist Gras das Harmlosest­e.

„Null Problemo“, sagt Horst. „Ich hab den VW. Sag mir, wo die Plantage ist.“

Ein zweiter Hunne tritt aus dem Gebüsch. Kurzberats­chlagensie, dannsindsi­e einver-standen.

Horst fährt. Dave daneben. Die zwei Hunnen dahinter.

Der eine von denen ist komplett verstrahlt. Kratzt sich wie ein Hund mit Ausschlag. Im Radio läuft Californic­ation.

Nach einer Viertelstu­nde sagt Horst: „Ich muss telefonier­en“, und hält an einer Tankstelle. Dave steigt mit aus. Dicke Schneefloc­ken zerfließen auf der warmen Motorhaube. (Fortsetzun­g folgt) © 2022 dtv Verlagsges­ellschaft mbh & Co. KG, München

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