Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Das war mein großer Wunsch: Dass die Zeit verging. Die Zeit konnte mir gar nicht schnell genug vergehen.
Schlaf, dachte ich.
Dieses Kaff, indemich seit meiner Geburt lebte, hieß Bodenstein und war exakt, wie man es sich vorstellt. Bayerische Provinz eine Stunde von der tschechischen Grenze. Keine neuntausend Einwohner. Aufgeplatzte Straßen, kein Einzugsgebiet von irgendwas und hohe Arbeitslosigkeit. Ein baufälliges Freibad, ein Skatepark mit zugetaggter Halfpipe. Das Sportheim gehörte den Nazis, der Stadtpark den Hunnen. Die erfolgreichste Vereinsmannschaft waren die Schützen. Einmal im Jahr gab es die Kirmes, einmal das Starkbierfest. Manchmal tingelte irgendein Zirkus vorbei. Das war’s. Das war Bodenstein. Die Stadt, in der nichts passierte. Hier war nicht einmal der Hund verreckt. Wenn hier ein Hund verreckt wäre, wäre das die Titelseite der Lokalzeitung gewesen. Extrablatt, Extrablatt!, verteilt von einem Jungen mit Knickerbocker, Schiebermütze und Fingerkuppen voll Druckerschwärze. Macht sieben Pennies, Sir.
In der Tat gab es nur eine Handvoll Geschichten, die sich je in Bodenstein zugetragen hatten. Mal hatte ein Waldarbeiter behauptet, ein Krokodil gesehen zu haben. Die Aufdeckung eines Autoschieberrings hatte es in die überregionalen Nachrichten geschafft. Und aus einer Geschichte hatte ich das gemacht:
DIE HUNNEN UND DIE WEED-PLANTAGE
Der Schnee knirscht unter Daves Air Max. Der Teich im Park ist eisbedeckt.
„Hier holst du immer was?“, fragt Horst und stellt den Kragen seines Parkas hoch. Horst ist der neue Freund von Daves Mutter. Der erste coole.
Gestern haben sie Pulp Fiction geschaut, und Horst hat erwähnt, dass er gerne mal einen durchzieht. Und ob er mitkann, wenn Dave das nächste Mal was holt. Ja, komm, warum eigentlich nicht. Jetzt stehen sie im Bodensteiner Stadtpark bei minus tausend Grad und warten auf die Hunnen. Denn wenn du in Bodenstein was zu rauchen willst, gehst du zu den Hunnen.
Die Hunnen, das sind Russen, Ungarn, Polen, Deutsche und einer aus dem Sudan. Nennen sich: Die Hunnen. Ist wie eine Gang. Anders als bei den Nazis. Die Nazis sind nur Nazis.
„Braucht ihr?“Einer der Hunnen steht vor ihnen. Er ist aus den Büschen gekommen, aus der Ecke mit den Parkbänken mit den eingeritzten Liebesschwüren.
„Für fünfzig“, sagt Dave.
Der Hunne verzieht den Mund. „Gerade schlecht“, sagt er. „Müssen zur Plantage.“
Die Hunnen haben eine versteckte Marihuanaplantage. Unten an der Naab, am Fluss. Das Problem ist, dass der Hunne gerade kein Auto hat. Und dass er gar nicht mehr fahren kann. Die Hunnen ballern gerne selber was, und da ist Gras das Harmloseste.
„Null Problemo“, sagt Horst. „Ich hab den VW. Sag mir, wo die Plantage ist.“
Ein zweiter Hunne tritt aus dem Gebüsch. Kurzberatschlagensie, dannsindsie einver-standen.
Horst fährt. Dave daneben. Die zwei Hunnen dahinter.
Der eine von denen ist komplett verstrahlt. Kratzt sich wie ein Hund mit Ausschlag. Im Radio läuft Californication.
Nach einer Viertelstunde sagt Horst: „Ich muss telefonieren“, und hält an einer Tankstelle. Dave steigt mit aus. Dicke Schneeflocken zerfließen auf der warmen Motorhaube. (Fortsetzung folgt) © 2022 dtv Verlagsgesellschaft mbh & Co. KG, München