Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

Eine Familie im Angesicht des Todes

Regisseur Matthias Glasner riskiert viel und erschafft mit „Sterben“einen grandiosen Film. Nur manchmal verliert die Geschichte ihre Balance.

- Maxi Braun

Wer in der Kunst sein Innerstes kreativ nach außen kehrt, geht das Risiko ein, nicht verstanden zu werden. Biedert man sich dagegen zu sehr an den Mainstream an, kippt die emotionale­botschafts­chnellin Kitsch. Soerklärt essinngemä­ßdervon Selbstzwei­feln geplagte Komponist Bernard (Robert Gwisdek) an einer Stelle in Matthias Glasners Film „Sterben“. Es passt zur feinen Selbstiron­ie des Films, der am Donnerstag in die Kinos kommt, dass dieser den beschriebe­nen Balanceakt selbst nicht durchgehen­d meistert.

„Sterben“wurde bei der diesjährig­en Berlinale mit dem Silbernen Bären für das Drehbuch ausgezeich­net. In 180 Minuten und sechs Kapiteln taucht der Film ein in die dysfunktio­nale Dynamik der Familie Lunies: Lissy Lunies (Corinna Harfouch) ist von Diabetes, Nierenvers­agen und Krebs gezeichnet, allein ihr nd Verstand ist ebenso klar wie kalt. Ihr Mann Gerd – körperlich kaum fitter, geistig komplett abgetreten – ist ihr nur noch eine Last.

„Sterben“ein herrlich makabrer bisweilen bitterböse­r Humor

Sohn Tom (Lars Eidinger) lebt als recht erfolgreic­her Dirigent in Berlin.

Mit seiner Ex-freundin Liv (Anna Bederke) zieht er das Kind eines anderen groß, weil Liv den Erzeuger nicht leiden kann. Neben diesem vertrackte­n Co-parenting-dreier kümmert er sich um seinen Freund Bernard. Der ist zwar genial, aber seit 20 Jahren unglücklic­h bis suizidal. Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenber­g) hangelt sich entschiede­nselbstzer­störerisch von Vollrausch zu Vollrausch und beginnt eine Affäre mit dem verheirate­ten Zahnarzt Sebastian (Roland Zehrfeld).

„Nicht alle Menschen haben das Talent zum Glücklichs­ein“, bemerkt Tom irgendwann. Wenn es darum geht, unglücklic­h zu sein, verfügen Glasners Figuren aber über eine regelrecht­e Inselbegab­ung. Dennoch durchzieht „Sterben“ein herrlich makabrer, bisweilen bitterböse­r bis brachialer Humor. Wenn Tom und seine Mutter am Küchentisc­h einander erst versehentl­ich, dann mit voller Absicht an den Kopf knallen, einander nie wirklich gemocht zu haben, ist das große Schauspiel­kunst.

Es gibt einige dieser grandios beiläufige­n, überzogene­n und doch wahrhaftig­en Szenen, die das glänzend besetzte Ensemble lakonisch trägt.

Vor allem Lars Eidinger ist als ewig gleich- und gutmütiger Tom erfrischen­d gegen den Strich besetzt. Zwar ist er auch hier nicht der Sympathiet­räger – denn davon gibt es im Film keinen einzigen– er bleibt aber der Ruhepol der Handlung. Robert Gwisdek („3 Tage in Quiberon“und auch bekannt als Musiker Käptn Peng) ist als sinnierend-melancholi­sches Genie genauso perfekt besetzt wie Harfouch, die wie ein nur äußerlich gebrechlic­hes Raubtier erscheint.

In der Überzeichn­ung unglaubwür­dig gerät nur der Teil aus Sicht von Toms Schwester Ellen, was nicht am Spiel von Lilith Stangenber­g liegt. Ellens selbstzers­törerische Art ist von der ersten Einstellun­g an so übertriebe­n, als wäre sie eine Art Anti-superheldi­n. Sie wirkt zu unkaputtba­r, um wirklich zu berühren. Wo das Altern in all seinen unerquickl­ichen Körperfunk­tionsausse­tzern selten so ehrlich wie in „Sterben“bei Vater und Mutter Lunies gezeigt wurde, eskaliert einer von Ellens Auftritten in splattrige­m Dentistenh­orror. Die exzessive Frau, die frei vögelt und säuft, ist mittlerwei­le zu einer Männerfant­asie von weiblicher Emanzipati­on mutiert.

Insgesamt beweist Glasner aber mit seinen Überzeichn­ungen Mut zum Risiko. Er marschiert derart furchtlos auf den eingangs skizzierte­n schmalen Grat zu, dass er manchmal ins Straucheln gerät. Gerade diese Ausrutsche­r machen „Sterben“zu einem besonderen Film, der viel über dentodund alles, was bis dahin passieren kann und sich so simpel Leben schimpft, erzählt.

´ Der Film kommt am Donnerstag in die Kinos.

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Foto: Jakub Bejnarowic­z Corinna Harfouch als Lissy Lunies und Lars Eidinger als Tom Lunies in dem Film „Sterben“, der am Donnerstag in die Kinos kommt.

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