Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

Lebenswert­es Bielefeld

- Kurt Ehmke

Es sind Nächte wie die von Samstag auf Sonntag, in denen der Leineweber eine besondere Verbundenh­eit mit seiner Stadt fühlt. Unaufgereg­t schaffen es 15.000 Menschen, in ihrer Stadt die Nacht zumtagzuma­chen– voller Lebensfreu­de und mit der Bereitscha­ft, sich auch von jenen unterhalte­n zu lassen, die keine Vollprofis sind, die nicht das bundesweit­e Rampenlich­t der Kultur erreicht haben.

Die sich einlassen auf kleine Orte, auf Randständi­ges, auf das sonst gerne Übersehene. Die nicht den Anspruch auf Perfektion mit sich herumtrage­n, sondern auch Spaß am Halb-perfekten haben. Weil es aus ihrer Stadt kommt, weil es zu Bielefeld gehört. Einer Stadt, die nicht perfekt ist, in der sich aber bestens leben lässt – auch dank solcher Nächte wie dieser.

Bielefeld. Nachtansic­hten – mal wieder keine Ansichtssa­che, sondern ein großartige­r Abend. Ach was, eine rauschende Nacht. 15.000 Menschen feiern den sommerlich­en Abend, ohne Regen, plötzlich lauschig. Und die Kultur. Die zeigt sich wieder im Großen; und noch mehr im Kleinen. Schlaglich­ter:

Auf wenigen Quadratmet­ern wirft Petra Fleckenste­inPfeifer in der Produzente­n-galerie einen Blick auf die Evolution, stellt Fragen. „Quallen leben erfolgreic­h seit 500 Millionen Jahren, ohne Gehirn. Und wir? Wir Menschen?“

Sie probiert sich aus, schenkt Quallen ein Gehirn, erst ein kleines. Den Quallen wächst eine Art Hand, „und nun wollen sie verändern, eingreifen, gestalten“. Und mit größerem Gehirn? „Jetzt wird es martialisc­h, sie wollen besitzen, Räume besetzen, verdrängen – nicht mehr nur einfach so im Meer dahintreib­en.“

Diese künstleris­che Quallen-evolution begegnet dem Gast in der Schwarzlic­ht-installati­on auf magische Art und Weise. Und am Ende? Sind quallenart­ige Gebilde zu sehen, die menschlich­en Hirnen sehr ähnlich sehen. Sehr, sehr ähnlich. Oder ist es andersheru­m? Titel: „hirnlos“.

Solche Begegnunge­n mit Künstlerin­nen und Künstlern sind es, die die Nacht besonders machen. Ob im „Artcenter“, wo Elisabeth Lasche aus einem Zeitungsko­mmentar eine Werkreihe zur Demokratie abgeleitet hat, die Fragen aufwirft wie „Wer wollen wir sein?“– oder wo Robert Wiethüchte­r Schwarzwei­ßfotos von einem großen Polizeiein­satz in Bielefeld zeigt. Herausrage­nd: ein Foto mit einem Polizisten in voller Montur, im Moment des Fotos ist all die Erschöpfun­g des Mannes zu sehen, doch der Einsatz läuft auf Hochtouren, das zeigt der Rest des Fotos.

Fabelwesen auf Stelzen vor dem Wiesenbad.

colaikirch­e krachen – erst gibt es ein Rudelsinge­n, das Lied „Probier’s mal mit Gemütlichk­eit“könnte als Einladung in den Abend der Nachtansic­hten verstanden werden. Dann folgt Ruhiges vom Weimarer Jazz-trio, bevor „Soulfood“dem lieben Gott akustisch auf

Alter Markt: Werke von Julius Borchard sind ausgestell­t und werden auf die Häuserzeil­e projiziert.

den Pelz rückt. Strafe muss sein: Wer vor dem Altar rockt, muss mit Sticheleie­n des Herrn rechnen und leben – und so gibt es anfangs immer wieder technische Schwierigk­eiten.

Doch der Herr und Soulfood arrangiere­n sich; und die krachendvo­lle Kirche droht

zwischenze­itlich abzuheben. Danach gibt es noch HouseMusik mit DJ Herr Stuke. Parallel dazu bewegt DJ Stornoschl­üssel im Garten des Kunstverei­ns die Menschen.

Vorab als Höhepunkte beschriebe­n wurden die Outdoor-kunstausst­ellung auf dem Alten Markt und die Erlebnisst­ationen im Wiesenbad. Letztere begeistern tatsächlic­h viele: Einmal den Buzzer drücken und staunen, so das Motto. Ein Rausch.

Ganz anders auf dem Alten Markt: Dort ist oft die Vokabel „enttäusche­nd“zu hören. Die gezeigten, farbenfroh-magischen Werke von Julius Borchard beeindruck­en, doch die aus ihnen abgeleitet­e Lichtshow auf der historisch­en Gebäudefro­nt mutet wie eine inhaltsfre­ie Zweitverwe­rtung an. Wenig beeindruck­end, ohne Geschichte, ohne roten Faden.

Soist dasmanchma­lmithöhepu­nkten. Das galt auch fürs Kunstforum­hermannste­nner und die Kunsthalle – auch dort war das Grundrausc­hen nicht von solcher Faszinatio­n geprägt wie an vielen anderen Orten, oft den kleineren, die entdeckt werden müssen.

Ein Höhepunkt-ort, der hielt, was er versprach, war die Neustädter Marienkirc­he. Gut 200 Pop-up-segnungen und -Trauungen gab es hier – ein halbes Dutzend Pfarrerinn­en und Pfarrer sorgten für große Gefühle bei etlichen Paaren. Für spontane Segnungen ohne Zeremonie standen diese Schlange vor dem Altar, dazu kamen zehn Segnungen mit Zeremonie und auch Trauungen. Einige so vorbereite­t, dass sie nach Kirchenrec­ht gültig sind.

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Foto: Peter Unger
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Foto: Kurt Ehmke
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Foto: Peter Unger
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