Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost
Wie Eltern die Schulpflicht austricksen
Viele wollen günstigere Flüge buchen oder dem Ferienverkehr ausweichen und kommunizieren das auch erstaunlich ehrlich. Schulleiter fordern deshalb immer häufiger Atteste – dagegen protestieren Kinderärzte.
Feiertage, bewegliche Ferientage, Sommerferien am Horizont: Ab Mai lassen sich die verbleibenden Wochen des Schuljahres gut aushalten. Vielen Eltern reicht die Freizeit für ihre Urlaubsplanung aber nicht. Und so stocken sie eigenmächtig auf, indem sie ihre Kinder einfach aus der Schule nehmen und so die Schulpflicht unterwandern. Ein Umstand, der in Ostwestfalen-lippe immer mehr zum Problem wird.
Bereits im vergangenen Jahr führte dieses Verhalten dazu, dass die Kinderärzte in NRW sich weigerten, Atteste für die Fehlzeiten in den kritischen Phasen auszustellen. Denn immer mehr Schulleitungen forderten an Brückentagen und vor und nach den Ferien eine ärztliche Bestätigung der Krankmeldung, weil Eltern inzwischen so regelmäßig und dreist die Schulpflicht unterwandern, dass Schulen hart durchgreifen müssten.
Dieser Umstand schlägt sich auch in den Statistiken der Bezirksregierung Detmold nieder. Denn wenn Schulleitungen unentschuldigtes Fehlen melden, verhängt Detmold Bußgelder aufgrund von Schulpflichtverletzung. 2018 waren es 712 Anordnungen, 2020, im ersten Pandemiejahr, 700 Anordnungen. 2021 stieg die Zahl auf 823, im vergangenen Jahr waren es 850.
Martina Reiske von der Grundschule Sudbrackschule in Bielefeld kennt diese Fälle zurgenüge. Regelmäßighatsie Anfragen von Eltern, die Sonderurlaub für ihre Kinder beantragen. „Da bin ich sogar froh, weil die ehrlich sind und wir mit denen insgespräch gehen können. Problematisch sind die, die lügen oder ihre Kinder einfach unangekündigt aus der Schule nehmen.“
Neben der Urlaubsverlängerung, günstigeren Flügen oder dem Versuch, dem Ferienverkehr auszuweichen, gibt es auch andere Begründungen. „Wir haben 28 Nationen an der Schule, da gibt es an Beurlaubungsanträgen alles, was man sich denken kann: Hochzeiten, Beerdigungen, religiöse Feste, Feste im Heimatdorf. Manchmal liegen Eltern von Eltern im Sterben und die Kinder werden zwei bis vier Wochen von der Schule abgemeldet, weil sich hier vor Ort sonst niemandum sie kümmern kann.“
Mittlerweile lässt sich Reiske deshalb jeden Antrag schriftlich mit Begründung geben. „Außerdem lasse ich mir Sterbeurkunden und andere Unterlagen geben. Kommen die Dokumente nicht, leite ich ein Bußgeldverfahren ein.“
Auch Guido Broziewski Blomenkamp von der Realschule Bünde-nord greift zu dieser Maßnahme. So häufig wie in Bielefeld kommt das Problem bei ihm nicht auf den Tisch, vertraut ist auch er damit. „In der Regel wird von den Eltern dann mit ,Krankheit‘ argumentiert – mehr muss auch seitens der Eltern nicht verraten werden. Dumm nur, wenn sich die Schüler dann Tage danach verplappern oder Mitschüler petzen. Das gab es bei uns auch schon.“280 bis 350 Eurokostet Eltern der Verstoß gegen die Schulpflicht – solange es ein Erstverstoß war.
Ein Schulleiter aus dem Kreis Lippe, der namentlich nicht genannt werden möchte, sieht auch ein großes Problem in den Klassenfahrten. „Wir haben hier immer wieder Familien, die ihren Kindern eine solche Fahrt aus religiösen Gründen nicht erlauben. Und die legen dann hanebüchene Atteste vor, auf denen zum Beispiel Diagnosen stehen wie Mobbing, für die dem Arzt lediglich die Behauptung der Eltern vorliegt.“
In einem anderen Fall habe er den Antrag einer Mutter auf Sonderurlaub abgelehnt. „Sie hatte aus Versehen einen Familienurlaub außerhalb der Ferienzeiten gebucht. Nachdem die Erlaubnis fehlte, fehlte aber auch das Kind in dieser Zeit, weil die Familie trotzdem in den Urlaub flog. Das dokumentierten sehr anschaulich auch die Fotosvomstrand, die in den sozialen Netzwerken gepostet wurden.“
Vorgehen müssen Schulleitungen gegen so offenkundiges Fehlverhalten. Denn grundsätzlich sind sie verpflichtet, die Schulpflicht zu überwachen, notfalls auch per Attest. „Gleichzeitig gehen wir mit diesem Instrument sorgfältig um“, sagt Oliver Dudek, Schulleiter der Gesamtschule Aspe in Bad Salzuflen. „Schließlich unterstellt man ja, dass die Eltern im Rahmen eigener Entschuldigungen nicht die Wahrheit sagen. Und das zerstört die vertrauensvolle Zusammenarbeit.“
Dasschulgesetzsieht die Atteste nicht grundsätzlich, sondern nur im Einzelfall vor. Schulleiter Jochen Welschmeier von der Realschule Hövelhof findet die Vorgabe hinderlich. „Uns ärgert die Tatsache, dass wir nicht generell ein Attest verlangen dürfen, wenn an den entsprechenden Tagen gefehlt wird. Das wurde im letzten Jahr vom Ministerium nochmals bestätigt.“
Genau das darf in den Augen von Marcus Heidemann, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-lippe, aber auch nicht passieren. „Schulpflicht zu sichern, ist nicht Aufgabe von uns Kinderärzten.“Zwar sei die Situation besser geworden, seitdem sich die Pädiater weigerten, Atteste inflationär auszustellen. „Aber viele Schulen fordern das weiterhin ein.“
Gleichzeitig äußern alle befragten Schulleiter auch Verständnis für die Situation der Kinderärzte. „Aber wenn wir diesem Unterwandern der Schulpflicht nicht Einhalt gebieten, nimmt das immer größere Ausmaße an“, sagt Martina Reiske aus Bielefeld. „Und das kann man so nicht einfach hinnehmen.“
Schulleiterin aus Bielefeld verlangt Sterbeurkunden
Schulgesetz NRW sieht Atteste nicht grundsätzlich vor