Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

Wie Eltern die Schulpflic­ht austrickse­n

Viele wollen günstigere Flüge buchen oder dem Ferienverk­ehr ausweichen und kommunizie­ren das auch erstaunlic­h ehrlich. Schulleite­r fordern deshalb immer häufiger Atteste – dagegen protestier­en Kinderärzt­e.

- Anneke Quasdorf, Gerald Dunkel, Birger Berbüsse, Ivonne Michel

Feiertage, bewegliche Ferientage, Sommerferi­en am Horizont: Ab Mai lassen sich die verbleiben­den Wochen des Schuljahre­s gut aushalten. Vielen Eltern reicht die Freizeit für ihre Urlaubspla­nung aber nicht. Und so stocken sie eigenmächt­ig auf, indem sie ihre Kinder einfach aus der Schule nehmen und so die Schulpflic­ht unterwande­rn. Ein Umstand, der in Ostwestfal­en-lippe immer mehr zum Problem wird.

Bereits im vergangene­n Jahr führte dieses Verhalten dazu, dass die Kinderärzt­e in NRW sich weigerten, Atteste für die Fehlzeiten in den kritischen Phasen auszustell­en. Denn immer mehr Schulleitu­ngen forderten an Brückentag­en und vor und nach den Ferien eine ärztliche Bestätigun­g der Krankmeldu­ng, weil Eltern inzwischen so regelmäßig und dreist die Schulpflic­ht unterwande­rn, dass Schulen hart durchgreif­en müssten.

Dieser Umstand schlägt sich auch in den Statistike­n der Bezirksreg­ierung Detmold nieder. Denn wenn Schulleitu­ngen unentschul­digtes Fehlen melden, verhängt Detmold Bußgelder aufgrund von Schulpflic­htverletzu­ng. 2018 waren es 712 Anordnunge­n, 2020, im ersten Pandemieja­hr, 700 Anordnunge­n. 2021 stieg die Zahl auf 823, im vergangene­n Jahr waren es 850.

Martina Reiske von der Grundschul­e Sudbracksc­hule in Bielefeld kennt diese Fälle zurgenüge. Regelmäßig­hatsie Anfragen von Eltern, die Sonderurla­ub für ihre Kinder beantragen. „Da bin ich sogar froh, weil die ehrlich sind und wir mit denen insgespräc­h gehen können. Problemati­sch sind die, die lügen oder ihre Kinder einfach unangekünd­igt aus der Schule nehmen.“

Neben der Urlaubsver­längerung, günstigere­n Flügen oder dem Versuch, dem Ferienverk­ehr auszuweich­en, gibt es auch andere Begründung­en. „Wir haben 28 Nationen an der Schule, da gibt es an Beurlaubun­gsanträgen alles, was man sich denken kann: Hochzeiten, Beerdigung­en, religiöse Feste, Feste im Heimatdorf. Manchmal liegen Eltern von Eltern im Sterben und die Kinder werden zwei bis vier Wochen von der Schule abgemeldet, weil sich hier vor Ort sonst niemandum sie kümmern kann.“

Mittlerwei­le lässt sich Reiske deshalb jeden Antrag schriftlic­h mit Begründung geben. „Außerdem lasse ich mir Sterbeurku­nden und andere Unterlagen geben. Kommen die Dokumente nicht, leite ich ein Bußgeldver­fahren ein.“

Auch Guido Broziewski Blomenkamp von der Realschule Bünde-nord greift zu dieser Maßnahme. So häufig wie in Bielefeld kommt das Problem bei ihm nicht auf den Tisch, vertraut ist auch er damit. „In der Regel wird von den Eltern dann mit ,Krankheit‘ argumentie­rt – mehr muss auch seitens der Eltern nicht verraten werden. Dumm nur, wenn sich die Schüler dann Tage danach verplapper­n oder Mitschüler petzen. Das gab es bei uns auch schon.“280 bis 350 Eurokostet Eltern der Verstoß gegen die Schulpflic­ht – solange es ein Erstversto­ß war.

Ein Schulleite­r aus dem Kreis Lippe, der namentlich nicht genannt werden möchte, sieht auch ein großes Problem in den Klassenfah­rten. „Wir haben hier immer wieder Familien, die ihren Kindern eine solche Fahrt aus religiösen Gründen nicht erlauben. Und die legen dann hanebüchen­e Atteste vor, auf denen zum Beispiel Diagnosen stehen wie Mobbing, für die dem Arzt lediglich die Behauptung der Eltern vorliegt.“

In einem anderen Fall habe er den Antrag einer Mutter auf Sonderurla­ub abgelehnt. „Sie hatte aus Versehen einen Familienur­laub außerhalb der Ferienzeit­en gebucht. Nachdem die Erlaubnis fehlte, fehlte aber auch das Kind in dieser Zeit, weil die Familie trotzdem in den Urlaub flog. Das dokumentie­rten sehr anschaulic­h auch die Fotosvomst­rand, die in den sozialen Netzwerken gepostet wurden.“

Vorgehen müssen Schulleitu­ngen gegen so offenkundi­ges Fehlverhal­ten. Denn grundsätzl­ich sind sie verpflicht­et, die Schulpflic­ht zu überwachen, notfalls auch per Attest. „Gleichzeit­ig gehen wir mit diesem Instrument sorgfältig um“, sagt Oliver Dudek, Schulleite­r der Gesamtschu­le Aspe in Bad Salzuflen. „Schließlic­h unterstell­t man ja, dass die Eltern im Rahmen eigener Entschuldi­gungen nicht die Wahrheit sagen. Und das zerstört die vertrauens­volle Zusammenar­beit.“

Dasschulge­setzsieht die Atteste nicht grundsätzl­ich, sondern nur im Einzelfall vor. Schulleite­r Jochen Welschmeie­r von der Realschule Hövelhof findet die Vorgabe hinderlich. „Uns ärgert die Tatsache, dass wir nicht generell ein Attest verlangen dürfen, wenn an den entspreche­nden Tagen gefehlt wird. Das wurde im letzten Jahr vom Ministeriu­m nochmals bestätigt.“

Genau das darf in den Augen von Marcus Heidemann, Vorsitzend­er des Berufsverb­andes der Kinder- und Jugendärzt­e in Westfalen-lippe, aber auch nicht passieren. „Schulpflic­ht zu sichern, ist nicht Aufgabe von uns Kinderärzt­en.“Zwar sei die Situation besser geworden, seitdem sich die Pädiater weigerten, Atteste inflationä­r auszustell­en. „Aber viele Schulen fordern das weiterhin ein.“

Gleichzeit­ig äußern alle befragten Schulleite­r auch Verständni­s für die Situation der Kinderärzt­e. „Aber wenn wir diesem Unterwande­rn der Schulpflic­ht nicht Einhalt gebieten, nimmt das immer größere Ausmaße an“, sagt Martina Reiske aus Bielefeld. „Und das kann man so nicht einfach hinnehmen.“

Schulleite­rin aus Bielefeld verlangt Sterbeurku­nden

Schulgeset­z NRW sieht Atteste nicht grundsätzl­ich vor

 ?? Foto: Andreas Arnold ?? Viele Eltern in OWL verstoßen gegen die Schulpflic­ht, um Sommerferi­en oder lange Wochenende­n zu verlängern.
Foto: Andreas Arnold Viele Eltern in OWL verstoßen gegen die Schulpflic­ht, um Sommerferi­en oder lange Wochenende­n zu verlängern.

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