Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost
„Viele Frauenbilder sind immer noch voller Klischees“
Gün Tank ist die Autorin der des Romans zum Stück „Die Optimistinnen“, das im Theater am Alten Markt Premiere feierte. Die NW sprach im Vorfeld mit der Berlinerin. Sie findet, dass der Blick auf die Lebenswelten der „Gastarbeiterinnen“noch immer lückenhaf
Frau Tank, Ihr 2022 erschienenes Buch, das der Theateradaption gleichen Titels im TAM Bielefeld zugrunde liegt, heißt „Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter“. Erklären Sie mir diese Titelwahl?
GÜN TANK:
Wie das so ist bei der Produktion eines Buches: Man fängt an zu schreiben und hat zwischendurch zehn verschiedene Titel. Als daswerkfertig war, istmiraufgegangen, dass ich doch im Großen und Ganzen über sehr optimistische Frauen geschrieben habe und der Titel zugleich gut in die heutige Zeit passt – da brauchen wir jede Menge Optimistinnen.
Sie verhelfen den Frauen der ersten Einwanderergeneration zur Sichtbarkeit: Verkürzt ausgedrückt, Frauen aus Istanbul standen in den 70er Jahrenimminirock pfälzischen Hausfrauen in Kittelschürze und mit Kopftuch gegenüber. Wieso halten sich die Klischees über das wenig selbstbestimmte Leben migrantischer Frauen noch immer so hartnäckig?
Wenn ich nur ein Wort wählen darf: Das ist Rassismus. Man bleibt im Kopf bei Figuren, die man verinnerlicht hat, wie sie sein sollen. Natürlich haben wir das eine wie das andere. Wir haben Frauen mit Kopftuch. Das heißt aber nicht automatisch, dass Frauen mit Kopftüchern nicht feministisch sein können. Ein bestimmtes Bild ist medial präsent. Wenn wir uns etwa Dokumentarfilme über die erste Einwanderergeneration in Deutschland anschauen, so geht es da meist nur um Männer. Die Bilder der Frauen tauchenkaumauf. Doch das Filmmaterial ist da, in den Archiven. Es geht darum, wie wir das vermitteln.
Die Frauen waren nicht nur selbstbewusst, sondern auch kämpferisch und haben zum Beispiel Front gegen die „Leichtlohngruppe“gemacht, mit Akkord an den Fließbändern gefremdelt. Wie ist das heute?
Wir sind jetzt bei der zweiten, dritten Einwanderer-generation: Die Leichtlohngruppe wurde in den 80er Jahren abgeschafft, aber die Namen ändern sich. Wir haben immer noch den Gender-pay-gap, auchdenmigrations-pay-gap. Das heißt, da gibt es noch viel zu tun und zu erkämpfen.
Ihr Vorbild war Ihre Mutter Azize, die sich alleinerziehend trotz vieler Widrigkeiten beruflich hochgekämpft hatte, erst Migrationsbeauftragte in einem Berliner Quartier wurde, dann Bundestagsabgeordnete der Linken. Ist ihre Geschichte inden Roman eingeflossen?
Die Figuren im Buch sind eine bunte Mischung aus verschiedenen Frauen. Das ist also keine Biografie meiner Mutter. Natürlich war sie aber Impulsgeberin für den Roman.
Das Buch wurde zuerst am Berliner Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Wie kam die Kooperation mitdemtheater Bielefeld zustande?
Die Premiere in Berlin war im Januar und hat gute Kritiken bekommen. Ich fand es auch gut gelungen. Der Kontakt nach Bielefeld lief über den Verlag. Aber ich habe sogar persönliche Beziehungen zu Bielefeld (lacht). Mein Mann ist für mich von Bielefeld nach Berlin gezogen.
Das heißt, die Umsetzung sehen Sie hier zur Premiere (Freitag, 17. Mai) zum ersten Mal und waren auch nicht in den Produktionsprozess involviert?
Nein, ich war nicht aktiv eingebunden, habe aber immer mal was gehört. Und jetzt bin ich sehr gespannt.
In dieser Produktion spielt Musik eine wichtige Rolle. Ist das am Gorki-theater ähnlich eingerichtet worden? Und warum ist das eine wichtige Zutat für Ihre Botschaft?
Musik war zu diesem Zeitpunkt der 70er ein wichtiger Aspekt, die Frauen tanzen sich sozusagen in den Streik. Das hat man am Gorki auch so umgesetzt. Es zeigt ja auch, wie diese erste migrantische Generation hier gelebt hat: Es gab die eigenemusik. Jene, dieman mitgebracht hatundsolche, die hier neu entstanden ist. Die dannauch eineformvondeutscher Musik ist, wenn sie vielleicht auch nicht in deutscher Sprache gesungen wird.
Was sind die Vorteile einer dramaturgischen Aufarbeitung eines literarischen Stoffs, wassindmöglichefallstricke?
Natürlich kann auf der Bühne nicht das ganze Buch widergespiegelt werden, aber subjektiv gesehen fand ich mich im Gorki in den Bildern auf der Bühne wieder. Und ich gehe auch davon aus, dass ich mich in der Bielefelder Produktion wiederfinde.
Gesellschaftskritik allgemein ist ein wichtiger Aspekt im Buch, etwa dass die Gewinne deutscher Firmen auf den Rücken zugewanderter Frauen erzieltwurden, diegeringentlohnt wurden. Liegt Ihr Fokus darauf oder auf den persönlichen Geschichten?
Im Roman geht es um eine Form von Liebe, nämlich Liebefürwiderstand, sichzuwehren, aber auch Solidarität und Liebe untereinander. Einzelne Figuren, die man miterleben kann, verschaffen noch mal ein anderes Gefühl, als wenn man ein gesellschaftskritisches Essay schreibt. Von daher spielt beides mit hinein.
Ich habe ein schönes Zitat von Ihnen gefunden, da haben Sie gesagt, dass Sie nie das Gefühl hatten, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, sondern immer auf einem großen Sofa. Erklären Sie mir das mal?
Meiner Generation wird ja oft vorgeworfen, wir könnten uns nicht so richtig entscheiden, wohin wir gehören. Ich habe mich sehr früh entschieden. Und zwar für ein Sofa, auf dem man viel mehr Platz hat als auf zwei Stühlen. Die Welten, die ich erleben darf, finde ich auf diesem Sofa wieder. Sie setzen sich mal zu mir, mal gehen sie auf Abstand. Aber ich fühle michauf diesem schönen, bunten Sofa sehr wohl.
Sie haben 2007 als Migrationsbeauftragte im Bezirk Schöneberg-tempelhof angefangen, heute arbeiten Sie dort als Beauftragte für Menschen mit Behinderungen. Hat die aktuelle Tätigkeit einen engen biografischen Bezug, da Sie ja eine Schwester mit Beeinträchtigungen haben?
Eigentlich habe ich in Istanbul Journalismus studiert und auch in Deutschland journalistisch gearbeitet. Aber ich fand mich schnell in Klischeethemen wieder. Es gab einen bestimmten Fokus, den man auf Migration gerichtet hatte, auf bestimmte Problemlagen etwa. Das war mir zu wenig differenziert. Gleichzeitig war ich in verschiedenen migrantischen Vereinen aktiv und habe mich für die Ausschreibung der Stelle der Migrationsbeauftragten interessiert.
Zehn Jahre habe ich in dem Job gearbeitet und hatte auch die Chance, das eine oder andere zubewegen. Ich habe Kulturveranstaltungen gemacht, bei denen eben genau die Geschichten, die nicht erzählt wurden, erzählt werden konnten. Nach der Geburt meiner Zwillinge bin ich zurück ins Amt sozusagen, dieses Mal ins Amt der Behindertenbeauftragten. Ich hoffe, dass ich durch meine Schwester eine gewisse Sensibilität mitbringe. Es ist interessant, zu beobachten, dass wir in der Arbeit mit Migranten wie auch mit Behinderten mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu tun haben. Es sind ähnliche Kämpfe, und ich lerne jeden Tag dazu.
Haben Sie das Gefühl von Rückschritten in der Lebenswelt migrantischer Frauen heute – im Vergleich zu den 70er Jahren. Hier und auch in der Türkei Erdogans?
Vieles bedingt einander. Inden 80er Jahren wurden zuerst die Frauen entlassen und fanden sich dann in Abhängigkeiten von ihren Männern wieder. Zugleich haben wir heute in der 2. und 3. Zuwanderergeneration sehr viele gut ausgebildete Frauen, die für ihre Rechte kämpfen und selbstbewusst agieren. Unabhängig davon, was sie glauben oder wie sie in ihrer Äußerlichkeit erscheinen. Rückschritte haben wir insofern, dass dieses „Nie wieder!“in der deutschen Politik, in der Migrationsdebatte, mehr und mehr aufgeweicht wird. Man sieht das etwa am Asyldeal mit Erdogan.