Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd
Fiktion – ausgerechnet dieses Wort steht im Mittelpunkt jenes so hart erkämpften Kompromisses, der die Versöhnung von CDU und CSU bezeugen soll. Mithilfe des juristischen Konstrukts der „fiktiven Nichteinreise“will die Union bereits anderswo in der EU registrierte Asylsuchende an der Grenze in „Transitzentren“unterbringen. Von dort sollen sie schnell abgeschoben werden können, damit sie nicht vom bisher geltenden Recht auf ein Verfahren in Deutschland Gebrauch machen.
Die juristische Fiktion besteht darin, dass so getan wird, als sei der Migrant noch gar nicht in den deutschen Rechtsraum eingereist. Eine politische Fiktion ist es zu glauben, dass CDU und CSU mit dieser Volte ihren Asylstreit beilegen. Im Gegenteil: Sie ziehen andere mit hinein. Der Kompromiss gibt vor, Klarheit im Umgang mit Flüchtlingen zu schaffen. Tatsächlich aber wirft er nur neue Fragen auf. An ihnen darf sich abarbeiten, wer ihm zur Umsetzung verhelfen soll: die SPD, die EU-Partner und später wohl auch die Gerichte.
Im Schatten des Unionsstreits geriet in Vergessenheit, dass auch die SPD keine klare Position zum Umgang mit Geflüchteten hat. Sozialdemokraten, die Solidarität einfordern, stehen solchen gegenüber, die in Migranten einen Grund für neue Verteilungskämpfe sehen. Dieser Konflikt tritt nun in der Debatte um Asylrechtsverschärfungen hervor. Die SPD steht vor einer neuen Zerreißprobe.
Der Kompromiss atmet auch keinen europäischen Geist, wie von der Kanzlerin behauptet. Ob und wann es zu Rücknahmeabkommen mit EUStaaten kommt, ist unklar. Italien, Hauptankunftsland für Flüchtlinge, sperrt sich. Selbst die der CSU wohlgesonnene, rechte Regierung Österreichs hat Bedenken gegenüber einer Wiederaufnahme von Migranten angemeldet. Als Reaktion plant Wien Kontrollen an der Grenze zu Italien und Slowenien. Mit der Reisefreiheit in Europa – einst als zivilisatorische Errungenschaft gefeiert – wäre es dann nicht mehr weit her. Längst überwunden geglaubte Grenzkonflikte könnten aufbrechen.
In Angst und Eile haben CDU und CSU einen Text zusammengeschustert, der zudem von der geltenden Rechtslage bestenfalls inspiriert ist, nicht aber auf ihr gründet. Inhaltliche Stichhaltigkeit war offenbar nicht gefragt – so wenig wie in den Streitwochen zuvor. Die CSU ist auf symbolische Gesten der Härte aus – und kommt damit durch.
Das Spektakel der Union hat nicht nur dem Ansehen eines vorgeblich auf Sitte und Anstand pochenden Konservatismus geschadet. Es beschädigt das Vertrauen in die Politik insgesamt – mit Folgen, die alles andere als fiktiv sind. Titelseite, Seite 3