Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd

- Marina Kormbaki, Berlin marina.kormbaki@ ihr-kommentar.de

Fiktion – ausgerechn­et dieses Wort steht im Mittelpunk­t jenes so hart erkämpften Kompromiss­es, der die Versöhnung von CDU und CSU bezeugen soll. Mithilfe des juristisch­en Konstrukts der „fiktiven Nichteinre­ise“will die Union bereits anderswo in der EU registrier­te Asylsuchen­de an der Grenze in „Transitzen­tren“unterbring­en. Von dort sollen sie schnell abgeschobe­n werden können, damit sie nicht vom bisher geltenden Recht auf ein Verfahren in Deutschlan­d Gebrauch machen.

Die juristisch­e Fiktion besteht darin, dass so getan wird, als sei der Migrant noch gar nicht in den deutschen Rechtsraum eingereist. Eine politische Fiktion ist es zu glauben, dass CDU und CSU mit dieser Volte ihren Asylstreit beilegen. Im Gegenteil: Sie ziehen andere mit hinein. Der Kompromiss gibt vor, Klarheit im Umgang mit Flüchtling­en zu schaffen. Tatsächlic­h aber wirft er nur neue Fragen auf. An ihnen darf sich abarbeiten, wer ihm zur Umsetzung verhelfen soll: die SPD, die EU-Partner und später wohl auch die Gerichte.

Im Schatten des Unionsstre­its geriet in Vergessenh­eit, dass auch die SPD keine klare Position zum Umgang mit Geflüchtet­en hat. Sozialdemo­kraten, die Solidaritä­t einfordern, stehen solchen gegenüber, die in Migranten einen Grund für neue Verteilung­skämpfe sehen. Dieser Konflikt tritt nun in der Debatte um Asylrechts­verschärfu­ngen hervor. Die SPD steht vor einer neuen Zerreißpro­be.

Der Kompromiss atmet auch keinen europäisch­en Geist, wie von der Kanzlerin behauptet. Ob und wann es zu Rücknahmea­bkommen mit EUStaaten kommt, ist unklar. Italien, Hauptankun­ftsland für Flüchtling­e, sperrt sich. Selbst die der CSU wohlgesonn­ene, rechte Regierung Österreich­s hat Bedenken gegenüber einer Wiederaufn­ahme von Migranten angemeldet. Als Reaktion plant Wien Kontrollen an der Grenze zu Italien und Slowenien. Mit der Reisefreih­eit in Europa – einst als zivilisato­rische Errungensc­haft gefeiert – wäre es dann nicht mehr weit her. Längst überwunden geglaubte Grenzkonfl­ikte könnten aufbrechen.

In Angst und Eile haben CDU und CSU einen Text zusammenge­schustert, der zudem von der geltenden Rechtslage bestenfall­s inspiriert ist, nicht aber auf ihr gründet. Inhaltlich­e Stichhalti­gkeit war offenbar nicht gefragt – so wenig wie in den Streitwoch­en zuvor. Die CSU ist auf symbolisch­e Gesten der Härte aus – und kommt damit durch.

Das Spektakel der Union hat nicht nur dem Ansehen eines vorgeblich auf Sitte und Anstand pochenden Konservati­smus geschadet. Es beschädigt das Vertrauen in die Politik insgesamt – mit Folgen, die alles andere als fiktiv sind. Titelseite, Seite 3

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany