Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd
Jetzt können die Briten sogar Elfmeterschießen. Monatelange Arbeit für den einen großen Moment im Achtelfinale gegen Kolumbien hat sich ausgezahlt
■ Moskau. Nach der Sternstunde von Moskau verneigte sich selbst der Königspalast vor Englands Elfmeter-Helden. Die Three Lions um ihren WMSuperstar Harry Kane schrieben ein Kapitel Fußball-Historie und erlösten sich auch dank der Akribie ihres Nationaltrainers Gareth Southgate von einem 22 Jahre lang quälenden Fluch. Insgesamt zehn Schüsse vom Punkt genügten Hoffnungsträger Kane und seinen Teamkollegen in der Achtelfinal-Zitterpartie gegen Kolumbien, um eine ganze Nation vom ersten WM-Titel seit 1966 träumen zu lassen. Auf dem Gipfel sind die Engländer zwar noch nicht, über Nacht reifte aber zum Beispiel der gefeierte Torwart Jordan Pickford der Zeitung The Times zufolge gar zum „Retter unserer Welt“heran. England hat ein Elfmeterschießen gewonnen. Was wie Satire und so paradox klingt, wurde beim 4:3 im WM-Achtelfinale tatsächlich wahr. „Das ist eine große Nacht für England, die Jungs sind fantastisch“, sagte Dauer-Torschütze Kane.
Für den Weltklassemann von Tottenham Hotspur ist klar: „Elfmeter verraten viel über die Mentalität.“Und diese zeigten nach fünf bitteren Strafstoß-Knockouts am Stück endlich mal die Three Lions. Sie schossen mutig, sie schossen wuchtig, sie schossen sich platziert ins Glück. „Ich hatte den vollen Glauben in unsere Schützen und in unseren Torwart“, versicherte Heldenmacher Southgate.
Das Mutterland des Fußballs feiert – und träumt. „Fuck me, I am crying. Yes yes yes“, jubelte Englands Legende Gary Lineker via Twitter. Ein Gefühlsausbruch, der keiner Übersetzung bedarf. Im Viertelfinale gegen Schweden am Samstag (16.00 Uhr) in Samara können Southgates Jungs erstmals seit 28 Jahren ein WM-Halbfinale erreichen. Der frühere Profi ist jetzt schon grenzenlos stolz auf sein Team. „Wir hatten totalen Glauben bis zum Ende“, beteuerte der 47-Jährige. Die monatelangen Simulationen und die detailgenaue Vorbereitung auf ein mögliches Elfmeter-Finale halfen den Three Lions, sehr vieles richtete Southgate auf diesen ersehnten Sieg aus.
„Ich könnte nicht stolzer auf
England sein – ein Sieg im Elfmeterschießen. Ihr solltet wissen, dass das ganze Land hinter euch steht“, schrieb Prinz William über den Twitter-Account des Kensington-Palastes. Eine persönliche Widmung von „W“, wie sich William unter der Nachricht verewigte, ist in dem sozialen Netzwerk eine absolute Ausnahme.
Die ewige Last vom Punkt, das Dauer-Scheitern in den vergangenen Jahren: In der größten denkbaren Drucksituation mussten Kane und Co. alles ausblenden – und es gelang ihnen prächtig. „Die Statistik macht es schwieriger für uns, aber wir waren relaxed, weil wir vorher Witze darüber gemacht haben“, sagte Southgate. Der Jubel und die berührenden Szenen auf dem Rasen des Spartak-Stadions sahen eher nach WM-Titel als nach Viertelfinaleinzug aus.
„Solche Momente muss man mit den Händen ergreifen, und das haben wir als Team auch gemacht“, sagte Angreifer Raheem Sterling. Dabei waren die Engländer nach einem Treffer von Kane (57. Minute) fast durch, bis ein Kopfballtor aus dem Nichts von Kolumbiens Yerry Mina (90.+3) den dominanten Engländern 30 Extra-Minuten einbrockte.
Der zusätzliche Umweg und die Widerstände der bissig kämpfenden Kolumbianer waren nicht genug. „Du kriegst im Leben nicht immer das, was du verdienst, aber heute haben wir es bekommen“, sagte Southgate.
Vor allem der erneut bärenstarke Kane lässt England träumen. Mit sechs Turniertoren steuert der 24-Jährige auf den Goldenen Schuh zu, der eiskalte Vollstrecker ist bislang der Star dieser Endrunde in Russland. Und dann ist da ja auch noch der neue Held zwischen den Pfosten. „Mich kümmert es nicht, falls ich nicht der größte Torwart der Welt sein sollte, ich habe die Kraft und Beweglichkeit“, sagte der 24 Jahre alte Pickford. Wer will schon der größte Torwart der Welt sein, wenn er sogar der Retter der englischen FußballWelt sein kann?