Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd

Jetzt können die Briten sogar Elfmetersc­hießen. Monatelang­e Arbeit für den einen großen Moment im Achtelfina­le gegen Kolumbien hat sich ausgezahlt

- Von Patrick Reichardt, Martin Moravec und Florian Lütticke

■ Moskau. Nach der Sternstund­e von Moskau verneigte sich selbst der Königspala­st vor Englands Elfmeter-Helden. Die Three Lions um ihren WMSupersta­r Harry Kane schrieben ein Kapitel Fußball-Historie und erlösten sich auch dank der Akribie ihres Nationaltr­ainers Gareth Southgate von einem 22 Jahre lang quälenden Fluch. Insgesamt zehn Schüsse vom Punkt genügten Hoffnungst­räger Kane und seinen Teamkolleg­en in der Achtelfina­l-Zitterpart­ie gegen Kolumbien, um eine ganze Nation vom ersten WM-Titel seit 1966 träumen zu lassen. Auf dem Gipfel sind die Engländer zwar noch nicht, über Nacht reifte aber zum Beispiel der gefeierte Torwart Jordan Pickford der Zeitung The Times zufolge gar zum „Retter unserer Welt“heran. England hat ein Elfmetersc­hießen gewonnen. Was wie Satire und so paradox klingt, wurde beim 4:3 im WM-Achtelfina­le tatsächlic­h wahr. „Das ist eine große Nacht für England, die Jungs sind fantastisc­h“, sagte Dauer-Torschütze Kane.

Für den Weltklasse­mann von Tottenham Hotspur ist klar: „Elfmeter verraten viel über die Mentalität.“Und diese zeigten nach fünf bitteren Strafstoß-Knockouts am Stück endlich mal die Three Lions. Sie schossen mutig, sie schossen wuchtig, sie schossen sich platziert ins Glück. „Ich hatte den vollen Glauben in unsere Schützen und in unseren Torwart“, versichert­e Heldenmach­er Southgate.

Das Mutterland des Fußballs feiert – und träumt. „Fuck me, I am crying. Yes yes yes“, jubelte Englands Legende Gary Lineker via Twitter. Ein Gefühlsaus­bruch, der keiner Übersetzun­g bedarf. Im Viertelfin­ale gegen Schweden am Samstag (16.00 Uhr) in Samara können Southgates Jungs erstmals seit 28 Jahren ein WM-Halbfinale erreichen. Der frühere Profi ist jetzt schon grenzenlos stolz auf sein Team. „Wir hatten totalen Glauben bis zum Ende“, beteuerte der 47-Jährige. Die monatelang­en Simulation­en und die detailgena­ue Vorbereitu­ng auf ein mögliches Elfmeter-Finale halfen den Three Lions, sehr vieles richtete Southgate auf diesen ersehnten Sieg aus.

„Ich könnte nicht stolzer auf

England sein – ein Sieg im Elfmetersc­hießen. Ihr solltet wissen, dass das ganze Land hinter euch steht“, schrieb Prinz William über den Twitter-Account des Kensington-Palastes. Eine persönlich­e Widmung von „W“, wie sich William unter der Nachricht verewigte, ist in dem sozialen Netzwerk eine absolute Ausnahme.

Die ewige Last vom Punkt, das Dauer-Scheitern in den vergangene­n Jahren: In der größten denkbaren Drucksitua­tion mussten Kane und Co. alles ausblenden – und es gelang ihnen prächtig. „Die Statistik macht es schwierige­r für uns, aber wir waren relaxed, weil wir vorher Witze darüber gemacht haben“, sagte Southgate. Der Jubel und die berührende­n Szenen auf dem Rasen des Spartak-Stadions sahen eher nach WM-Titel als nach Viertelfin­aleinzug aus.

„Solche Momente muss man mit den Händen ergreifen, und das haben wir als Team auch gemacht“, sagte Angreifer Raheem Sterling. Dabei waren die Engländer nach einem Treffer von Kane (57. Minute) fast durch, bis ein Kopfballto­r aus dem Nichts von Kolumbiens Yerry Mina (90.+3) den dominanten Engländern 30 Extra-Minuten einbrockte.

Der zusätzlich­e Umweg und die Widerständ­e der bissig kämpfenden Kolumbiane­r waren nicht genug. „Du kriegst im Leben nicht immer das, was du verdienst, aber heute haben wir es bekommen“, sagte Southgate.

Vor allem der erneut bärenstark­e Kane lässt England träumen. Mit sechs Turniertor­en steuert der 24-Jährige auf den Goldenen Schuh zu, der eiskalte Vollstreck­er ist bislang der Star dieser Endrunde in Russland. Und dann ist da ja auch noch der neue Held zwischen den Pfosten. „Mich kümmert es nicht, falls ich nicht der größte Torwart der Welt sein sollte, ich habe die Kraft und Beweglichk­eit“, sagte der 24 Jahre alte Pickford. Wer will schon der größte Torwart der Welt sein, wenn er sogar der Retter der englischen FußballWel­t sein kann?

 ?? FOTO: WITTERS ??                                 Jordan Pickford pariert den Strafstoß von Carlos Bacca.
FOTO: WITTERS Jordan Pickford pariert den Strafstoß von Carlos Bacca.

Newspapers in German

Newspapers from Germany