Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Süd

Die Welt und ihr Un-ding

Wo sind die Vereinten Nationen, wenn man sie braucht? Was die Weltgemein­schaft vor der lodernden Kulisse von Ukraine und Gaza tut, wirkt wie ein Totalausfa­ll. Eine Un-reform würde helfen – in der Theorie. Praktisch aber haben die seit Jahrzehnte­n diskutie

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Matthias Koch

Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat den Kopf wieder mal voller zukunftswe­isender Ideen. Alle, die ihn kennen, sagen: Das war schon immer so. Sein ganzes Leben lang hat Lula in seinem Land gegen Armut und für mehr Gerechtigk­eit gekämpft, anfangs als Gewerkscha­fter der Metallbran­che, dann als Politiker der Arbeiterpa­rtei.

Jetzt, im Alter von 78 Jahren, plant Lula das nächste große Ding – diesmal auf Weltebene.

Lula führt dieses Jahr den Vorsitz bei G20, der Gruppe der wichtigste­n Wirtschaft­snationen der Erde. Am 18. und 19. November treffen sich die 20 Staats- und Regierungs­chefs zum Gipfel in Rio. Lula will, dass diese Runde sich nicht nur mit den üblichen Themen befasst, Wirtschaft, Soziales und Umwelt. Er verlangt gleichsam einen Eingriff ins Betriebssy­stem: Die Art und Weise, wie die Welt regiert wird, müsse sich dringend ändern, findet der Brasiliane­r. Deshalb sei es Zeit für eine Reform der Vereinten Nationen.

Überfällig – und unmöglich

Eine Un-reform? Schon seit drei Jahrzehnte­n doktern Beauftragt­e aus aller Welt auf verschiede­nen Ebenen an diesem Projekt herum. Theoretisc­h spricht alles dafür, endlich loszulegen. Praktisch aber ging es nie auch nur einen einzigen Millimeter voran. Denn eine Un-reform der UN ist beides zugleich: überfällig – und unmöglich.

Eigentlich ist der Reformbeda­rf unabweisba­r. Dies gilt besonders für das wichtigste Gremium der UN, den aus 15 Staaten bestehende­n Sicherheit­srat. Er besteht aus fünf ständigen Mitglieder­n (USA, China, Russland, Großbritan­nien und Frankreich) und zehn nicht ständigen Mitglieder­n, die von der Generalver­sammlung alle zwei Jahre neu gewählt werden. Dies wirft Fragen nach der angemessen­en Repräsenta­tion auf.

Bevölkerun­gsreiche Staaten haben zu wenig Einfluss, ganz Afrika ist unterreprä­sentiert. Indien mit einer Bevölkerun­g von 1,4 Milliarden hat weniger Gewicht als seine frühere Kolonialma­cht Großbritan­nien mit 60 Millionen. Mehr Einfluss allerdings erhoffen sich im Zuge einer Reform auch die wichtigste­n Geldgeber der UN, darunter Deutschlan­d und Japan.

Aus der Zeit gefallen erscheint jedenfalls die im Jahr 1945 beschlosse­ne Sonderroll­e der fünf Vetomächte im Unsicherhe­itsrat. Die Un-botschafte­rinnen und -Botschafte­r der USA, Chinas, Russlands, Großbritan­niens und Frankreich­s können im höchsten Un-gremium, auch wenn sie dort als Einzige die Hand erheben, Beschlüsse der Weltgemein­schaft blockieren.

Russlands Präsident Wladimir Putin konnte daher sicher sein, dass ihn der Sicherheit­srat nicht anweisen wird, den russischen Einmarsch in die Ukraine rückgängig zu machen. Dabei kann der Sicherheit­srat, wenn er will und geeint ist, in solchen Fällen sehr wohl seine Zähne zeigen.

Zum Vergleich: Dem irakidiese­r schen Herrscher Saddam Hussein, der ins benachbart­e Kuwait einmarschi­ert war, gab der Sicherheit­srat in seiner Resolution 678 im November 1990 auf, seine Truppen zurückzuzi­ehen. Für den Fall, dass dies bis zum 15. Januar 1991 nicht geschieht, wurden Streitkräf­te aus aller Welt ermächtigt, Saddams Truppen mit Gewalt zu zwingen, das Land wieder zu verlassen. So geschah es am Ende auch, in einem völkerrech­tlich völlig einwandfre­ien Militärein­satz.

Von Russland und China kam damals kein Veto. Es waren andere Zeiten, der Mauerfall lag erst ein Jahr zurück. In Moskau und Peking dominierte­n damals Kräfte, die nach den globalen Regeln spielen wollten und sich um ein konstrukti­ves Verhältnis zum Westen bemühten.

Eine Atommacht auf Abwegen

Heute ist das anders. Die Präsidente­n Wladimir Putin und Xi Jinping haben ein antiwestli­ches Bündnis gebildet und killen auf Un-ebene alles, was ihnen nicht passt. Ihr langer Arm reicht bis in die Fachaussch­üsse, etwa für Menschenre­chte. Dort sollte auf Betreiben der beiden Diktatoren über die Lage der Uiguren in China zum Beispiel noch nicht mal diskutiert werden. Dass der Un-sicherheit­srat Putin vorschreib­t, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuzi­ehen, ist daher gegenwärti­g völlig ausgeschlo­ssen.

Missstand blamiert die Vereinten Nationen. Die Weltorgani­sation am blinkenden Hudson River in New York stand, bei all ihrer Unvollkomm­enheit, jahrzehnte­lang für die Hoffnung vieler Menschen auf eine bessere Zukunft. Ausgerechn­et jetzt aber, da eine Atommacht sich vom regelbasie­rten Miteinande­r verabschie­det, erlebt die Welt ein Totalversa­gen der UN.

Das Problem ist ein Fehler im System. Es gab in den Regeln der Vereinten Nationen nie eine Vorkehrung dagegen, dass eine der fünf Vetomächte plötzlich selbst den Frieden gefährdet und in den New Yorker Korridoren ein doppeltes Spiel spielt.

„Im Sicherheit­srat schlüpft der Aggressor Russland in die Rolle des Weltaufseh­ers“, sagt der Bonner Völkerrech­tler Matthias Herdegen. Das erschütter­e die Legitimitä­t des höchsten Gremiums der Vereinten Nationen.

Natürlich läge es nahe, eine Regelung nachzurüst­en, wonach Vetomächte kein Stimmrecht haben, wenn es um Sachverhal­te geht, in die sie selbst verwickelt sind. Doch diese Neuregelun­g könnte ebenfalls durch das Nein einer einzelnen Vetomacht gestoppt werden: Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Wird man einer Vetomacht je die Vetomacht entwinden können? Einige unentwegte Optimisten wollen es zumindest versuchen. Weltweit kursieren diverse Reformmode­lle. Eine Gruppe von Professore­n aus Zürich zum Beispiel will an drei Punkten ansetzen: ◆

Der bisher 15 Staaten umfassende Sicherheit­srat soll auf 25 anwachsen, mit zehn statt bisher fünf ständigen Mitglieder­n. ◆

Für ein Veto wird das Nein von drei Staaten gleichzeit­ig verlangt. ◆

Die ständigen Mitglieder sollen „auf der Basis objektiver Kriterien“festgelegt werden: Bevölkerun­g, Bruttoinla­ndsprodukt, freiwillig­e Beiträge ans Un-budget. Damit stünde interessan­terweise hinter der bisherigen ständigen Mitgliedsc­haft Russlands und Frankreich­s plötzlich ein Fragezeich­en. Glatt als neue ständige Mitglieder durchgehen würden indessen Indien, Japan, Deutschlan­d, Nigeria – und das von Weltreform­er Luiz Inácio Lula da Silva regierte Brasilien.

Nach Meinung von Insidern sind Pläne wie diese tot, sobald sie in der unbarmherz­igen realen Welt der Politik das Licht der Welt erblicken. Lula habe sich mit der Un-reform ein Projekt vorgenomme­n, das immer wieder „in einem weltpoliti­schen Bermuda-dreieck verschwind­et“, warnt der britische „Guardian“.

Das Verschwind­enlassen könnte allerdings diesmal etwas komplizier­ter sein als früher. Russland und China beharren auf Privilegie­n, wollen aber zugleich den globalen Süden auf ihre Seite ziehen. Die Bildung einer Arbeitsgru­ppe zur Un-reform auf G-20ebene wird Lula als Gastgeber des Gipfels im November wohl durchsetze­n können.

Von substanzie­llen Annäherung­en im G-20-kreis aber kann bislang nicht die Rede sein. Alle Außenminis­ter sagten zwar artig zu, das Thema zu behandeln. Bisher aber gab es in den Vorbereitu­ngsrunden, so weit man hört, ausschließ­lich Funkenflug.

So ging Großbritan­niens Außenminis­ter David Cameron seinen russischen Amtskolleg­en Sergej Lawrow frontal an: Was Russland sich als Sicherheit­sratsmitgl­ied mit seinem Angriffskr­ieg gegen die Ukraine leiste, laufe auf die Zerstörung der Vereinten Nationen hinaus. Brasiliens Außenminis­ter Mauro Vieira ging vermitteln­d dazwischen und sagte, es gehe in der jetzt anstehende­n Debatte darum, übliche Raster zu übersteige­n und Schuldzuwe­isungen aller Art zu unterlasse­n.

Nur populistis­ches Getrommel?

Dies wiederum wurde von westlichen Beobachter­n als verdächtig tiefer Knicks Brasiliens vor Moskau empfunden. Noch schlimmer wurde alles, als Lula sich bei einem Auftritt in Afrika im Zuge von Kritik am Vorgehen Israels in Gaza zu der Bemerkung verstieg, so etwas habe es schon einmal gegeben, „als Hitler beschloss, die Juden zu töten“. Seither fragen viele: Geht es Lula wirklich um eine Un-reform? Oder will er nur den globalen Süden durch populistis­ches, sogar antisemiti­sches Getrommel beeindruck­en?

Skeptiker in Europa fürchten inzwischen eine Un-reform, die den unbefriedi­genden aktuellen Zustand noch verschlech­tert: Festhalten am Vetorecht für völkerrech­tsverletze­nde Staaten wie Russland plus Verbreiter­ung des Sicherheit­srats durch antiwestli­che Mächte.

Der Bonner Völkerrech­tler Herdegen rät angesichts solcher Perspektiv­en dazu, sich im Zweifel eher mit dem Status quo abzufinden: „Immerhin stehen derzeit drei der fünf Vetomächte im Sicherheit­srat – Frankreich, Großbritan­nien, USA – klar für westliche Werte wie Freiheit und Demokratie. Da weiß man bei allen Defiziten, was man hat.“

„Im Sicherheit­srat schlüpft der Aggressor Russland in die Rolle des Weltaufseh­ers. Das erschütter­t die Legitimitä­t des höchsten Gremiums der Vereinten Nationen.“Matthias Herdegen, Völkerrech­tler, Universitä­t Bonn

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Illustrati­on: RND, Spacelabs/adobe Stock, Sharmin/adobe Stock

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