Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
Es brodelt in Frankreich
Terror, Corona, Rezession – die Franzosen, denen derzeit kaum etwas erspart bleibt, legen einen verblüffenden Langmut an den Tag. Aber wie lange kann das noch gut gehen?
schritt, von mehr als 70 Prozent der Bürger begrüßt. Proteste bleiben die Ausnahme.
Dochdiese Ruhekönnte trügerisch ein. Das jedenfalls glaubt der angesehene Politologe Pascal Perrineau: „Unsere Gesellschaft steht unter einem Dauerdruck, der zwangsläufig zu Unbehagen und Unmut führt. Und wenn der Druck anhält oder sogar noch ansteigt, droht sich der Unmut in Zorn zu verwandeln.“Perrineau verweist warnend auf die Gelbwesten-Bewegung, den jüngsten sozialen Aufstand, den niemand kommen sah. Sein Auslöser war im Herbst 2018 eine Erhöhung der Treibstoffsteuer, welche in den Augen zahlreicher Geringverdiener auf dem Land, die auf ihre Autos angewiesen sind, das Fass zum Überlaufen brachte.
Wer erlebt, wie viel Mut und Trotz die Franzosen der nicht enden wollenden Serie islamistischer Anschläge entgegenstellen (Macron hat diese Haltung, als er auf die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty wutbebend mit dem Satz „Damit kommen die nicht durch!“reagierte, recht gut auf den Punkt gebracht), und wer erstaunt feststellt, mit welcher ihnen stets abgesprochenen Disziplin sie sich den unerfreulichen Lockdown-Einschränkungen fügen, weiß, dass es derzeit aller Wahrscheinlichkeit nach weder der Terror noch das Virus sein dürften, die das Fass zum Überlaufen bringen können. Bleibt die dritte von Rougemont angesprochene Angst, auf die auch
Perrineau anspielt: die vor der Verschlechterung der eigenen wirtschaftlichen Situation.
„Vor Corona war die Schlange halb so lang“, sagt Miriam Senac und weist auf die zwei Dutzend Menschen, die sich im Pariser Vorort SaintDenis vor ihrem Lebensmittelstand aufgereiht haben. Die resolute Rentnerin gehört einer lokalen Hilfsorganisation an, die täglich Grundnahrungsmittel an bedürftige Gemeindemitglieder ausgibt. „Menschen, die mit der Sozialhilfe oder mit ihrer kleinen Rente nicht über die Runden kommen.“Das sei bei den „Neuen“, die seit dem Frühjahr hinzugekommen sind, zwar auch der Fall. Bloß hätten die sich vorher mit Gelegenheits- oder Schwarzarbeitsjobs selbst über Wasser gehalten, „nach denen man jetzt lange und vergeblich suchen muss“, so Senac.
In Regierungskreisen ist man übrigens weit davon entfernt, Perrineau als Kassandra abzutun. „Nichts treibt den Präsidenten so um wie die Perspektive einer sozialen Revolte“, gibt ein Berater Macrons im vertraulichen Gespräch zu und setzt hinzu: „Wir überdenken jede Maßnahme und jede Initiative mindestens drei Mal, um ja in kein Wespennest zu stechen.“Eine naheliegende Vorsicht. Im ÉlyséePalast ist man sich bewusst, dass selbst die großzügige Teilzeit-Regelung, die eine spürbare Verschärfung darstellende Reform der Arbeitslosenversicherung oder die Hilfen für die von Krise und Lockdown besonders betroffenen Branchen nur die größten Härten abzufedern vermögen.