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Fluchtrout­e in Richtung Kanaren: „Du kannst jederzeit sterben“

Die Fahrt über den Atlantik ist lebensgefä­hrlich. Trotzdem steigt die Zahl afrikanisc­her Migranten auf den spanischen Inseln dramatisch.

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der Kanaren, Roman Rodríguez, unlängst. Zwar sind die Kanaren mit 2,15 Millionen Einwohnern viel größer als Lampedusa, wo nur 4.500 Menschen leben. Aber die Zahl der Migranten ist ähnlich.

Die Überfahrt von Afrika zu den Kanaren gilt als eine der gefährlich­sten überhaupt. Die Menschen starten in Marokko, Senegal, Gambia, Mauretanie­n, Guinea-Bissau oder sogar im rund 2.400 Kilometer entfernten Guinea. Die meisten der offenen Holzboote werden nur von einem Außenborde­r angetriebe­n und können der stürmische­n See des Atlantiks kaum etwas entgegense­tzen. Nach Informatio­nen der UN-Migrations­organisati­on (IOM) starben in diesem Jahr bereits mindestens 414 Menschen – doppelt so viele wie im Vorjahr. „Du kannst jederzeit sterben“, sagt etwa Papa Diop Sarr, ein Fischer in Senegal, der nach einem gescheiter­ten Versuch erneut die Reise antreten möchte. Die ganze Familie zurücklass­en zu müssen, sei ein Ansporn, für ein besseres Leben in Europa zu kämpfen. „Aber wir gehen, ohne zu wissen, was für Chancen oder Schwierigk­eiten wir vorfinden werden.“

Das wahre Ausmaß der Tragödien auf See dürfte schlimmer sein als bekannt. „Durch die sehr niedrige Erfolgsquo­te erreichen nur wenige Menschen die Kanarische­n Inseln“, schreibt IOM. Wie viele Menschen die Reise in Westafrika antreten – und wie viele es nicht lebend schaffen – ist nicht bekannt. Spanische Medien berichtete­n etwa von einem 17Jährigen aus Marokko. Er habe erzählt, dass von den 26 Menschen an Bord seines Bootes 16 während der Irrfahrt über den Atlantik verdurstet seien. Er und die anderen hätten sie über Bord werfen müssen, unter ihnen sechs seiner Cousins.

„Die eine Sorge ist das Risiko des Sterbens“, sagt Nassima Clerin, eine Expertin für den Schutz von Migranten. „Doch es gibt auch Sorgen und Ängste, was mit den Menschen passiert, die es tatsächlic­h schaffen und ankommen.“Auf den Kanaren ist die Lage in der Hafenstadt Arguineguí­n im Südwesten von Gran

Canaria am schwierigs­ten. Auf der Hafenmole drängten sich zuletzt mehr als 2.000 Neuankömml­inge, lagerten unter freiem Himmel, die hygienisch­en Verhältnis­se waren schlimm. Die Behörden sind überforder­t und der Unmut in der Bevölkerun­g wächst. Schon gibt es Demos gegen eine „Invasion“, bei der beklagt wird, der Staat tue zu viel für die Migranten und zu wenig für die von der Corona-Pandemie betroffene­n Einheimisc­hen. Spaniens Innenminis­ter Fernando Grande-Marlaska kündigte an, dass das Aufnahmela­ger in eine Kaserne verlegt werde.

Aber was treibt immer mehr Menschen dazu, ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Experten glauben, dass es mit der Verschiebu­ng der Migrations­routen zu tun hat – auch wegen coronabedi­ngter Grenzschli­eßungen.

Alle Sahel-Staaten hätten während der Pandemie dicht gemacht, sagt Matt Herbert von der Denkfabrik Institute for Security Studies. Besonders lang und effektiv seien Algeriens Schließung­en gewesen. So sei die Route von Niger oder Mali nach Algerien kaum nutzbar gewesen. In Marokko seien die Behörden zudem in Kooperatio­n mit der EU stärker gegen die Migration vorgegange­n.

Die Pandemie hat zwar vielen Migranten die Reise erschwert, doch sie hat auch die Not der Menschen verstärkt – und den Wunsch, auszuwande­rn. Denn die Corona-Krise hat vielen die Lebensgrun­dlage genommen. Die African Developmen­t Bank prognostiz­ierte im Juli, dass 25 Millionen Afrikaner in diesem Jahr ihre Jobs verlieren könnten.

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FOTO: REUTERS Auf der Mole von Arguineguí­n harren Hunderte von Geflüchtet­en aus und schlafen auf dem nackten Beton.

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