Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
Der stotternde Atomausstieg
Das Bundesverfassungsgericht spricht Energiekonzernen das Recht auf Entschädigung infolge des Abschaltens von Kernkraftwerken zu. Eine alte Debatte lebt damit auf.
¥ Karlsruhe/Bielefeld. Mit einer weitreichenden Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht den politischen Streit um die Rechtssicherheit des 2011 per Gesetz beschlossenen beschleunigten Atomausstiegs erneut angefacht. Die Verfassungsrichter sprachen dem Kläger, dem Energiekonzern Vattenfall, hohe Ausgleichsansprüche zu. Es geht um mehrere hundert Millionen Euro.
Auf das Geld hat der Betreiber der frühzeitig vom Netz gegangenen deutschen Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel demnach Anspruch, weil er die zuvor vom Staat zugestandenen Strommengen durch die festgeschriebenen Abschalttermine nicht mehr selbst hatte produzieren können. Die schwarz-gelbe Koalition hatte nach dem Reaktorunglück von Fukushima in Japan eine kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung mit diesem Gesetz wieder rückgängig gemacht.
Der Gesetzgeber muss nun die vom Verfassungsgericht in Karlsruhe festgestellten Ansprüche rechtlich neu fassen. Dies kündigte Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) denn auch gleich an. Sie respektiere „selbstverständlich“die Entscheidung der Verfassungsrichter, erklärte sie. „Klar ist, dass das Urteil nicht den Atomausstieg bis 2022 an sich betrifft, der vom Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen schon 2016 bestätigt wurde“, beeilte sich die Ministerin nachzuschieben. Die Ausgleichsansprüche der Kernkraftwerksbetreiber beträfen lediglich einen „Randbereich“dieses Gesetzes.
„Die heutige Entscheidung wird kein Anlass sein, die Abschaltung der Kernkraftwerke hinauszuschieben“, erklärte auch der niedersächsische Umweltminister Olaf Lies (SPD). Der Umstieg auf die erneuerbare Energie mit Windkraft und Photovoltaik sei „alternativlos“, so der Minister. In Niedersachsen ist nach wie vor das Kernkraftwerk Grohnde am Netz, an dem auch die Stadt Bielefeld beteiligt ist (s. Infokasten). Das Kernkraftwerk soll dem Gesetz zufolge Ende 2021 seinen Betrieb einstellen.
Sylvia Kotting-Uhl (Bündnis 90/Die Grünen) sprach im Zusammenhang mit dem Urteil aus Karlsruhe von der „Unfähigkeit der Bundesregierung“.
Die Koalition müsse nun „gründlich und wie vom Gericht gefordert schnellstmöglich nachbessern“. Es sei „moralisch fragwürdig“, dass die Atomkonzerne fast zehn Jahre nach dem Atomausstieg noch Geld erstreiten könnten. Dies gelte umso mehr, als die beiden Anlagen von Vattenfall „bereits vor der Stilllegung 2011 wegen massiver Sicherheitsmängel jahrelang nicht in Betrieb waren“, wie KottingUhl erklärte.
Vattenfall begrüßte, wie die anderen Energiekonzerne, die Entscheidung der Verfassungsrichter. Die Atomgesetznovelle des Bundes sei „den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht einmal im Ansatz gerecht geworden, sondern hat die massiven Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Energieversorgern noch einmal verschärft“, erklärte der Konzern.
Angelika Claußen, Europapräsidentin der Vereinigung Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), gab zu bedenken, dass die Energiekonzerne Eon und RWE trotz des Atomausstiegs über ihre Beteiligung am Urananreicherer Urenco einen Wiedereinstieg in den Neubau von Atomkraftwerken in den Niederlanden und Großbritannien planten. „Für alle AKW-Baupläne von Urenco besitzt die Bundesregierung aufgrund internationaler Verträge die Aufsichtspflicht und damit verbunden ein Veto-Recht“, sagt Claußen. Die Ärztin forderte den Bund auf, dieses wahrzunehmen.