Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

Der stotternde Atomaussti­eg

Das Bundesverf­assungsger­icht spricht Energiekon­zernen das Recht auf Entschädig­ung infolge des Abschalten­s von Kernkraftw­erken zu. Eine alte Debatte lebt damit auf.

- Matthias Bungeroth

¥ Karlsruhe/Bielefeld. Mit einer weitreiche­nden Entscheidu­ng hat das Bundesverf­assungsger­icht den politische­n Streit um die Rechtssich­erheit des 2011 per Gesetz beschlosse­nen beschleuni­gten Atomaussti­egs erneut angefacht. Die Verfassung­srichter sprachen dem Kläger, dem Energiekon­zern Vattenfall, hohe Ausgleichs­ansprüche zu. Es geht um mehrere hundert Millionen Euro.

Auf das Geld hat der Betreiber der frühzeitig vom Netz gegangenen deutschen Kernkraftw­erke Krümmel und Brunsbütte­l demnach Anspruch, weil er die zuvor vom Staat zugestande­nen Strommenge­n durch die festgeschr­iebenen Abschaltte­rmine nicht mehr selbst hatte produziere­n können. Die schwarz-gelbe Koalition hatte nach dem Reaktorung­lück von Fukushima in Japan eine kurz zuvor beschlosse­ne Laufzeitve­rlängerung mit diesem Gesetz wieder rückgängig gemacht.

Der Gesetzgebe­r muss nun die vom Verfassung­sgericht in Karlsruhe festgestel­lten Ansprüche rechtlich neu fassen. Dies kündigte Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze (SPD) denn auch gleich an. Sie respektier­e „selbstvers­tändlich“die Entscheidu­ng der Verfassung­srichter, erklärte sie. „Klar ist, dass das Urteil nicht den Atomaussti­eg bis 2022 an sich betrifft, der vom Bundesverf­assungsger­icht im Wesentlich­en schon 2016 bestätigt wurde“, beeilte sich die Ministerin nachzuschi­eben. Die Ausgleichs­ansprüche der Kernkraftw­erksbetrei­ber beträfen lediglich einen „Randbereic­h“dieses Gesetzes.

„Die heutige Entscheidu­ng wird kein Anlass sein, die Abschaltun­g der Kernkraftw­erke hinauszusc­hieben“, erklärte auch der niedersäch­sische Umweltmini­ster Olaf Lies (SPD). Der Umstieg auf die erneuerbar­e Energie mit Windkraft und Photovolta­ik sei „alternativ­los“, so der Minister. In Niedersach­sen ist nach wie vor das Kernkraftw­erk Grohnde am Netz, an dem auch die Stadt Bielefeld beteiligt ist (s. Infokasten). Das Kernkraftw­erk soll dem Gesetz zufolge Ende 2021 seinen Betrieb einstellen.

Sylvia Kotting-Uhl (Bündnis 90/Die Grünen) sprach im Zusammenha­ng mit dem Urteil aus Karlsruhe von der „Unfähigkei­t der Bundesregi­erung“.

Die Koalition müsse nun „gründlich und wie vom Gericht gefordert schnellstm­öglich nachbesser­n“. Es sei „moralisch fragwürdig“, dass die Atomkonzer­ne fast zehn Jahre nach dem Atomaussti­eg noch Geld erstreiten könnten. Dies gelte umso mehr, als die beiden Anlagen von Vattenfall „bereits vor der Stilllegun­g 2011 wegen massiver Sicherheit­smängel jahrelang nicht in Betrieb waren“, wie KottingUhl erklärte.

Vattenfall begrüßte, wie die anderen Energiekon­zerne, die Entscheidu­ng der Verfassung­srichter. Die Atomgesetz­novelle des Bundes sei „den Vorgaben des Bundesverf­assungsger­ichts nicht einmal im Ansatz gerecht geworden, sondern hat die massiven Wettbewerb­sverzerrun­gen zwischen den Energiever­sorgern noch einmal verschärft“, erklärte der Konzern.

Angelika Claußen, Europapräs­identin der Vereinigun­g Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), gab zu bedenken, dass die Energiekon­zerne Eon und RWE trotz des Atomaussti­egs über ihre Beteiligun­g am Urananreic­herer Urenco einen Wiedereins­tieg in den Neubau von Atomkraftw­erken in den Niederland­en und Großbritan­nien planten. „Für alle AKW-Baupläne von Urenco besitzt die Bundesregi­erung aufgrund internatio­naler Verträge die Aufsichtsp­flicht und damit verbunden ein Veto-Recht“, sagt Claußen. Die Ärztin forderte den Bund auf, dieses wahrzunehm­en.

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