Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
Das Antiquariat der Träume
Vielleicht waren die Menschen aber auch einfach nur durch die Vorbereitungen für das Fest zur Sommersonnenwende und die damit einhergehende Urlaubszeit abgelenkt. Jedenfalls blieb drei Tage vor Mittsommer das Telefon bei Johan absolut still.
Niemand meldete sich mehr bei ihm.
Johan hatte bei seinem Einzug einen Apparat im Wohnhaus und einen im Antiquariat installieren lassen. Er konnte beide als Haustelefon nutzen und sogar Anrufer von einem Telefon zum anderen durchstellen, was technisch supermodern für Hedekas war und wirklich praktisch sein konnte, auch wenn er diese Möglichkeit erst wenige Male genutzt hatte. Doch auch die Überprüfung der Leitung und der Telefone selbst ergab, dass beides völlig in Ordnung war. Es schien sich wirklich niemand mehr für die „Singoalla“zu interessieren.
So stand Johan also am Donnerstag vor Midsommarratlos imAntiquariat, nachdemdas Café längst geschlossen hatte. Es war ein ruhiger Tag gewesen, nur drei Pärchen, die einen Seespaziergang unternommen hatten, waren vorbeigekommen, um etwas zu trinken.
Die Tür zum Hof stand auf, die Sonne schien gleißend hell vom Himmel und warf ihre Strahlen in die umgebaute Scheune und auf die Regale und Bücherstapel, die Johan mit verschränkten Armen betrachtete. Hatte er tatsächlich er-wartet, dass sich jemand melden würde? Oder lag es an seinem Anzeigentext, der den Richtigen einfach nicht zu ihm geführt hatte? Und ganz langsam kam ihm ein Verdacht: Hatte er vielleicht ganz tief in seinem verborgenen Innersten unwillkürlich eine winzige, beinahe unfühlbare Idee über viele Monate und Jahre genährt, bis sie zart und leise zur Hoffnung gekeimt war, nämlich dass es dem Schicksal genauso leicht möglich wäre, eine ertrunkene Lina ins Leben zurückzuholen, wie es ihm gelungen war, ein versunkenes Buch wieder auftauchen zu lassen?
„Hast du das wirklich gehofft? Die Leute, die dich wegen der ›Singoalla‹ angerufen haben, hatten allesamt recht. Du bist wirklich ein Narr, Johan Andersson!“
Johan blickte zum Dielenboden.
Dort saß plötzlich und wie aus dem Nichts der schwarze Pudel und rügte ihn: „Ich habe dich gewarnt.“
„Das stimmt“, gab Johan zu. „Aber was soll ich jetzt tun?“
Der Pudel erhob sich, schüttelte sich und legte den Kopf schräg. „Tja, jetzt ist guter Rat teuer, nicht wahr? Nach Stockholm kannst du nicht zurückkehren. Ich glaube, dass du weder Patricia mit dem Aerobic-Hintern noch Magnus, deinem dir ehemals wohlgesonnenen Geschäftspartner, unter die Augen treten kannst.“Der Hund drehte sich einmal um sich selbst, dann setzte er sich, schaute Johan wieder an und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Zumindest nicht ohne perfekte Vorbereitung und eine ganze Menge absolut glaubhafter Entschuldigungen und Erklärungen.“
Draußen fuhr ein Auto auf den Parkplatz. „Es kommt jemand“, wunderte sich Johan. „Was kümmert’s mich?“, fragte der schwarze Pudel. Johan trat aus dem Antiquariat in den Hof.
Ein Mann, etwa in seinem Alter, schlenderte über den Kies auf ihn zu. „Hej!“, rief der Mann.
Johan grüßte zurück. „Hej. Das Café ist leider schon geschlossen.“
„Oh, das ist halb so schlimm. Deswegen bin ich nicht hier. Ich kommewegendesBuches. Wegen der Anzeige im Aftonbladet. Ich bin hier doch richtig beim Antiquariat von Johan Andersson?“
Der Mann streckte Johan die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest und angenehm. Und das erste Mal seit langer Zeit verspürte Johan so etwas wie tiefes Vertrauen, beinahe so tief wie bei Agnes und ihrem Bruder, dem Pfarrer Bertilsson.
„Ja, da sind Sie richtig“, antwortete Johan. Dann stutzte er. „Sagen Sie, kennen wir uns?“
Der Mann schürzte die Lippen und betrachtete Johan einen Augenblick lang mit nachdenklicher Miene.
Dann schüttelte er den Kopf. „Ich glaube nicht.“Er lachte freundlich. „Aber ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich heiße Lindholm, Bengt Lindholm.“
(Fortsetzung folgt)