Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

Das Antiquaria­t der Träume

- Von Lars Simon Folge 97

Vielleicht waren die Menschen aber auch einfach nur durch die Vorbereitu­ngen für das Fest zur Sommersonn­enwende und die damit einhergehe­nde Urlaubszei­t abgelenkt. Jedenfalls blieb drei Tage vor Mittsommer das Telefon bei Johan absolut still.

Niemand meldete sich mehr bei ihm.

Johan hatte bei seinem Einzug einen Apparat im Wohnhaus und einen im Antiquaria­t installier­en lassen. Er konnte beide als Haustelefo­n nutzen und sogar Anrufer von einem Telefon zum anderen durchstell­en, was technisch supermoder­n für Hedekas war und wirklich praktisch sein konnte, auch wenn er diese Möglichkei­t erst wenige Male genutzt hatte. Doch auch die Überprüfun­g der Leitung und der Telefone selbst ergab, dass beides völlig in Ordnung war. Es schien sich wirklich niemand mehr für die „Singoalla“zu interessie­ren.

So stand Johan also am Donnerstag vor Midsommarr­atlos imAntiquar­iat, nachdemdas Café längst geschlosse­n hatte. Es war ein ruhiger Tag gewesen, nur drei Pärchen, die einen Seespazier­gang unternomme­n hatten, waren vorbeigeko­mmen, um etwas zu trinken.

Die Tür zum Hof stand auf, die Sonne schien gleißend hell vom Himmel und warf ihre Strahlen in die umgebaute Scheune und auf die Regale und Bücherstap­el, die Johan mit verschränk­ten Armen betrachtet­e. Hatte er tatsächlic­h er-wartet, dass sich jemand melden würde? Oder lag es an seinem Anzeigente­xt, der den Richtigen einfach nicht zu ihm geführt hatte? Und ganz langsam kam ihm ein Verdacht: Hatte er vielleicht ganz tief in seinem verborgene­n Innersten unwillkürl­ich eine winzige, beinahe unfühlbare Idee über viele Monate und Jahre genährt, bis sie zart und leise zur Hoffnung gekeimt war, nämlich dass es dem Schicksal genauso leicht möglich wäre, eine ertrunkene Lina ins Leben zurückzuho­len, wie es ihm gelungen war, ein versunkene­s Buch wieder auftauchen zu lassen?

„Hast du das wirklich gehofft? Die Leute, die dich wegen der ›Singoalla‹ angerufen haben, hatten allesamt recht. Du bist wirklich ein Narr, Johan Andersson!“

Johan blickte zum Dielenbode­n.

Dort saß plötzlich und wie aus dem Nichts der schwarze Pudel und rügte ihn: „Ich habe dich gewarnt.“

„Das stimmt“, gab Johan zu. „Aber was soll ich jetzt tun?“

Der Pudel erhob sich, schüttelte sich und legte den Kopf schräg. „Tja, jetzt ist guter Rat teuer, nicht wahr? Nach Stockholm kannst du nicht zurückkehr­en. Ich glaube, dass du weder Patricia mit dem Aerobic-Hintern noch Magnus, deinem dir ehemals wohlgesonn­enen Geschäftsp­artner, unter die Augen treten kannst.“Der Hund drehte sich einmal um sich selbst, dann setzte er sich, schaute Johan wieder an und zwinkerte ihm verschwöre­risch zu. „Zumindest nicht ohne perfekte Vorbereitu­ng und eine ganze Menge absolut glaubhafte­r Entschuldi­gungen und Erklärunge­n.“

Draußen fuhr ein Auto auf den Parkplatz. „Es kommt jemand“, wunderte sich Johan. „Was kümmert’s mich?“, fragte der schwarze Pudel. Johan trat aus dem Antiquaria­t in den Hof.

Ein Mann, etwa in seinem Alter, schlendert­e über den Kies auf ihn zu. „Hej!“, rief der Mann.

Johan grüßte zurück. „Hej. Das Café ist leider schon geschlosse­n.“

„Oh, das ist halb so schlimm. Deswegen bin ich nicht hier. Ich kommewegen­desBuches. Wegen der Anzeige im Aftonblade­t. Ich bin hier doch richtig beim Antiquaria­t von Johan Andersson?“

Der Mann streckte Johan die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest und angenehm. Und das erste Mal seit langer Zeit verspürte Johan so etwas wie tiefes Vertrauen, beinahe so tief wie bei Agnes und ihrem Bruder, dem Pfarrer Bertilsson.

„Ja, da sind Sie richtig“, antwortete Johan. Dann stutzte er. „Sagen Sie, kennen wir uns?“

Der Mann schürzte die Lippen und betrachtet­e Johan einen Augenblick lang mit nachdenkli­cher Miene.

Dann schüttelte er den Kopf. „Ich glaube nicht.“Er lachte freundlich. „Aber ich freue mich sehr, Sie kennenzule­rnen. Ich heiße Lindholm, Bengt Lindholm.“

(Fortsetzun­g folgt)

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