Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

Digital hilflos gegen Corona

Die deutsche Software Sormas läuft in Afrika, Frankreich und der Schweiz – nur nicht in Deutschlan­d. Die hiesigen Gesundheit­sämter verfolgen die Kontakte meist auf Papier.

- Jan Sternberg

¥ Berlin. Wenn Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) über die Digitalisi­erung der Gesundheit­sämter in der Corona-Pandemie spricht, erzählt er von Afrika. Bei einem Besuch in der Gesundheit­sbehörde in Nigeria seien ihm die vielen Bildschirm­e aufgefalle­n, die in Echtzeit den Stand von Infektions­ausbrüchen im Land zeigten. Maßgeblich dafür sei eine deutsche Software, sagten ihm seine Gesprächsp­artner. Sormas heiße sie, entwickelt vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig und dem Robert Koch-Institut, um die Ebola-Ausbrüche in Westafrika zu bekämpfen. „Kann ja gar nicht sein, dass ihr in Nigeria mehr könnt als wir in Deutschlan­d“, dachte Spahn.

EKLATANTER RÜCKSTAND

Heute kommt erneut die Kanzlerin mit den Länderchef­s und -chefinnen zum Corona-Gipfel zusammen. Nicht auf der Tagesordnu­ng: der eklatante Digitalisi­erungsrück­stand im Gesundheit­sdienst. Am Mittwoch wird das neue Infektions­schutzgese­tz im Bundestag verabschie­det – die Regelung des digitalen Flickentep­pichs ist kein Thema. Lothar Wieler, Leiter des Robert KochInstit­uts (RKI), fordert „Daten für Taten“, damit die Ämter „mehr Zeit für ihre Kernaufgab­e gewinnen“.

Die zweite Welle überlastet die Gesundheit­sämter, auch weil viele in der Kontaktver­folgung noch mit Papierakte­n und Excel-Tabellen hantieren. Die Kontakte werden in vielen Großstädte­n nur noch bei Risikofäll­en ermittelt und vom Amt informiert, etwa bei Covid-Patienten aus Seniorenhe­imen. Auch mit Bundeswehr-Unterstütz­ung bleibt kaum Zeit, die positiv Getesteten zu informiere­n.

ENTLASTUNG

Sormas kann hier eine enorme Entlastung sein, sagt etwa Silvia Eller vom Gesundheit­samt des Rhein-Kreises Neuss: „Wir haben vorher parallel mit Papierakte­n und Excel-Tabellen gearbeitet. Jetzt hat jeder Mitarbeite­r zeitgleich Zugriff auf die Daten, kann das in Echtzeit sofort bearbeiten. Das spart sehr viel Zeit, nur so können wir die Kontaktver­folgung zurzeit noch leisten.“Dennoch ist

Sormas erst in etwa 50 Kommunen und Landkreise­n in Deutschlan­d eingeführt. In der Schweiz setzt inzwischen mehr als die Hälfte der Kantone das System, in Frankreich die Mehrzahl der Regionen.

DIGITALISI­ERUNG

Warum scheitert ausgerechn­et Deutschlan­d daran, die Gesundheit­sämter einheitlic­h zu digitalisi­eren? Am Geld liegt es nicht. Knapp zwölf Millionen Euro stellt das Gesundheit­sministeri­um zur Verfügung, um ein integriert­es Konzept zur Kontaktver­folgung einzuführe­n, mit Systemtage­buch und Schnittste­llen zum Meldesyste­m des Robert Koch-Instituts. Eine Basisversi­on soll laut Plan im Herbst fertig sein, ist es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Das Ministeriu­m will die Hoffnung nicht aufgeben. Ein Sprecher teilt mit: „Die Bundesregi­erung geht davon aus, dass eine Basisversi­on des Systems wie geplant im Laufe des Herbsts verfügbar sein wird und kurzfristi­g die testweise Pilotierun­g erfolgen kann.“Wegen der fehlenden Schnittste­lle zögern aber viele Kommunen, Sormas für die Kontaktver­folgung und das Quarantäne-Management einzusetze­n.

VERSÄUMNIS­SE

Fakt ist: Es gab Versäumnis­se, während der weniger belasteten Zeit im Sommer digitale Lösungen voranzutre­iben. Das rächt sich jetzt. Jedes Gesundheit­samt entschied für sich, welche Programme für die Kontaktver­folgung zum Einsatz kamen. Vielerorts entwickeln IT-Verantwort­liche eigene Lösungen, obwohl das nicht nötig wäre.

EINHEITLIC­HES SYSTEM

Tobias Schellhorn kümmert sich im Rhein-Kreis um die Digitalisi­erung der Verwaltung. Er sagt: „Auf Sormas sind wir durch Zufall gestoßen, Monate bevor wir auf offizielle­m Weg davon erfuhren. Das Programm ist für uns kostenlos und die Entwickler reagieren schnell auf unsere Vorschläge für Verbesseru­ngen.“Ute Teichert fordert jetzt mehr Zentralism­us. Die Vorsitzend­e des Bundesverb­ands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlich­en Gesundheit­sdienstes sagt: „Irgendjema­nd müsste endlich entscheide­n, dass wir ein einheitlic­hes System in Deutschlan­d bekommen.“

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