Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
Das Antiquariat der Träume
Ob Johan sich vorstellen könne, dass jemand es aus der Truhe geklaut habe, hatte Bengt Lindholm ihn gefragt.
Vorstellbar sei alles, und man müsse das wohl annehmen, hatte Johan geantwortet. Bengt Lindholm hatte beipflichtend genickt und gemeint, dass es eine andere Erklärung wohl nicht gebe. Schließlich könne sich ein Buch ja kaum in Luft auflösen.
Dazu hatte Johan nichts gesagt, denn in diesem Punkt war er sich nicht so sicher gewesen. In den vergangenen Jahren hatte sich viel in seinem Leben gezeigt und wieder in Luft aufgelöst – warum nicht auch ein Buch?
Bengt Lindholm hatte nicht unbedingt einen zufriedenen Eindruck gemacht. Aber er war Johan nicht böse gewesen. Wenigstens hatte er nicht wie viele andere Interessenten daran gezweifelt, dass Johan das Buch überhaupt jemals besessen hatte. Er hatte seine beiden Goldmünzen wieder eingesteckt, Johan seine Telefonnummer dagelassen, für den Fall, dass die „Singoalla“doch wieder auftauchen sollte, denn er sei weiterhin sehr an ihr interessiert. Dann war er wieder weggefahren.
Am Abend des nächsten Tages saß Johan auf der Holztreppe vor seinem Haus, trank einen Kaffee, in den er von Zeit zu Zeit einen Butterkeks eintauchte, und las im „Steppenwolf“von Hermann Hesse, um sich ein wenig von seiner stundenlangen erfolglosen Suche nach der Singoalla abzulenken, die ihn immer noch sehr aufwühlte. Das Antiquariat unddas Café hatten heute am Midsommarafton, dem Freitag vor Mittsommer, ohnehin geschlossen.
Da klopfte jemand an das Hoftor. Verwundert stellte Johan seine Tasse auf die Treppe, legte das Buch aufgeschlagen daneben und ging nachsehen, wer um diese Uhrzeit noch etwas von ihm wollte. Er dachte an Touristen, die sich verlaufen hatten und einen Schluck Wasser brauchten. Doch als er das Tor öffnete, traf ihn fast der Schlag.
Herrn Dvalinsson hatte er total verdrängt. „Hej, Herr Andersson“, begrüßte ihn der alte Antiquar, als hätten sie eine Verabredung und als wäre es ganz normal, dass er hier und jetzt vor Johan stand.
Die Kleidung des kleinen hageren Mannes war staubig und wirkte noch mehr wie aus der Zeit gefallen als damals auf dem Loppis in Karlstad. Er hatte seine Kapuze zurückgeschlagen, und seine Augen glühten in der noch immer heißen Abendsonne, die so hoch stand, dass man hätte meinen können, es sei gerade einmal die Mittagszeit vorbei. Sein grauer Bart wallte herab, sanft bewegt vomWind, der vomLersjön herüberkam. Über der Schulter trug er ein Bündel an einem Wanderstock, den er nun absetzte und neben sich an das Tor lehnte.
„Ich komme wegen des Buches“, sagte Herr Dvalinsson. Johan schluckte.
„Jaja, das Buch“, sagte er und merkte, wie dämlich es sich anhören musste.
„Konnten Sie es verkaufen?“
„Nein.“
„Der, der es verdient hat, ist nicht gekommen?“
„Doch. Er war heute da. Zumindest war ich davon überzeugt, dass er es war“, erwiderte Johan.
Herr Dvalinsson betrachtete Johan prüfend. „Aber warum haben Sie es ihm dann nicht verkauft? Morgen ist Midsommar, und Sie wissen, dass ich das Buch und das Gold heute mitnehmen muss, wenn Sie es nicht losgeworden sind. So war es ausgemacht.“
„Es ist weg“, sagte Johan.
„Das Buch ist weg?“
„Ja“, antwortete Johan zerknirscht.
„Was soll das heißen, weg? Wo ist es denn, und wie konnte das passieren?“Das Gesicht des Antiquars wurde sehr ernst. Seine Augen verengten sich bedrohlich zu Schlitzen.
„Ich befürchte, man hat es mir gestohlen“, gestand Johan.
„Ich habe es erst heute bemerkt, als ich es dem Käufer geben wollte. In meinem Antiquariat war in den letzten Wochen ein Kommen und Gehen, und viele Leute hätten die Gelegenheit dazu gehabt, es zu entwenden. Ich hätte es imHauslassen undnicht in meine Truhe stecken sollen. Ich bin untröstlich.“Herrn Dvalinssons Züge entspannten sich zu Johans Überraschung.
(Fortsetzung folgt)