Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
Gefangen im eigenen Land
Keine Demokratie hat sich in der Corona-Krise so abgeschottet wie Australien. Niemand kommt rein, niemand raus. Wie ist das mit den Menschenrechten vereinbar?
¥ Sydney. Jade Grant streicht ihrem einjährigen Sohn Jacob über die Haare. Die Großeltern in England haben ihren Enkel noch nie auf dem Arm gehabt, sie kennen ihn nur von Fotos und Videoanrufen. Doch gerade jetzt könnte eine echte Umarmung nicht dringender sein: Jacobs Großmutter hat Lungenkrebs im Endstadium und wohl nur noch Monate zu leben. Aber die Familie mit drei Kindern, die vor fünf Jahren in die Stadt Gold Coast an der australischen Ostküste ausgewandert ist, kann nicht ausreisen, ohne ihr Leben, das sie sich mühsam aufgebaut hat, komplett aufzugeben.
Das strikte internationale Reiseverbot, das Australien im März 2020 erlassen hat, um die Bevölkerung vor Corona zu schützen, macht die Ein- und Ausreise nahezu unmöglich. Wer einen besonders triftigen Grund hat, kann zwar eine Ausnahmegenehmigung beim australischen Grenzschutz beantragen. Todkranke Familienmitglieder, Beerdigungen und dringende Geschäfte zählen zu diesen Gründen.
„Ich bin davon ausgegangen, dass ich auf jeden Fall diese Ausnahmegenehmigung bekomme“, sagt Grant (32). Drei Anträge sind aber bereits abgelehnt worden. Das ist bei vielen so, die Gründe bleiben unklar. Der Unmut bei den Betroffenen wächst. Auch Rechtsexperten und Menschenrechtsorganisationen stellen zunehmend die Legalität des Reiseverbots infrage.
Die Grants sind mit einem temporären Visum in Down Under, nächstes Jahr wollen sie die Staatsbürgerschaft beantragen. Rob Grant ist Tischler – Handwerker werden in Australien händeringend gesucht. Theoretisch kann die Familie, anders als Staatsbürger, auch ausreisen. Aber ohne Sondererlaubnis kommt sie danach nicht wieder ins Land. Und die wird einfach nicht erteilt. Die Situation sei unerträglich, sagt Grant. „Wir können an nichts anderes mehr denken. “
Kein anderer demokratischer Staat hat seine Grenzen so lange und so strikt geschlossen. Medien sprechen regelmäßig von der „Festung Australien“. In sozialen Netzwerken vergleichen wütende Bürger das Land schon mit der Gefängniskolonie, die es einst war. „Wenn ich mir vorstelle, dass jemand in einem Land eingesperrt ist, dann klingt das für mich nach einem undemokratischen, totalitären System“, sagt Kim Rubenstein, Rechtsprofessorin an der Australian National University.
„Wir wurden gegen unseren Willen hier festgehalten“, erzählt etwa Shaalyn Monteiro, eine indische Künstlerin, die mit ihrem Mannknappfünf Jahre in Sydney lebte und das Land für immer verlassen will. „Wir möchten nicht mehr zurückkommen. Das haben wir auch in unserer Bewerbung belegt.“Trotzdem wurde die Reisegenehmigung von Behörden immer wieder verweigert.
Die rechtliche Grundlage für das internationale Reiseverbot ist der Bio Security Act von 2015. Im Interesse der öffentlichen Gesundheit darf die Regierung Freiheiten beschränken – wie in diesem Fall die Bewegungsfreiheit, die aber auch ein Menschenrecht ist. „Der Rahmen, in dem das Reiseverbot verhängt wurde, scheint mir nicht rechtmäßig zu sein“sagt Rubenstein.
Kritiker fordern zumindest den Bau von speziellen Quarantäneeinrichtungen, umeine sichere Ein- und Ausreise für mehr Menschen zu ermöglichen. Bislang muss jeder – ob geimpft oder ungeimpft – 14 Tage in Hotelquarantäne, die etwa 3.000 australische Dollar (rund 1.800 Euro) pro Person kostet und selbst gezahlt werden muss. Das ist für viele, der 40.000 Australier im Ausland, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, schlicht zu teuer – zumal sich die Flugpreise zum Teil verzehnfacht haben.
Auch Christian, ein australischer Drehbuchautor, saß lange in den USA fest. Nur mit viel Geduld und Geld schaffte er es zurück nach Sydney. „Jeder Australier, der im Ausland lebt und nach Hause möchte, sollte Hilfe und die Erlaubnis bekommen“, sagt er. „Jede Politik, die anders agiert, ist verabscheuungswürdig.“
Für Australier, die im Ausland leben und aus dringenden Gründen zurückkommen müssen, wurden aber jetzt die Regelungen sogar noch einmal verschärft: Sie dürfen nach dem Besuch nicht mehr automatisch in ihre Wohnorte ausreisen und müssen dafür eine Sondergenehmigung beantragen. Amnesty schrieb in einem Brief an Premier Scott Morrison, dies sei nicht nur eine Verletzung der Menschenrechte, sondern könnte auch gegen die australische Verfassung verstoßen. Die Regierung hat eine Öffnung des Landes für Juli 2022 in Aussicht gestellt. Für den kleinen Jacob Grant könnte es dann zu spät sein, um die Oma noch kennenzulernen.