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Afghanistan fällt fast ohne Gegenwehr
Die Taliban versprechen eine friedliche Übernahme. Doch die Menschen am Hindukusch haben Angst. Und die Veränderungen lassen nicht auf sich warten.
¥ Kabul/Berlin. Die Einwohner von Asadabad in der Provinz Kunar sind wütend auf die Armee: „Flieht nicht!“, fordern sie von den Soldaten. Vergebens. Die afghanischen Truppen schießen vor dem Einmarsch der Taliban mit ihren Gewehren nur ein paar Mal in die Luft, dann ergreifen sie die Flucht. In der Stadt Ghasni wiederum überreicht der Gouverneur einen Blumenstrauß an die Aufständischen und räumt dann sein Büro. Binnen Tagen ist ganz Afghanistan praktisch kampflos an die Taliban gefallen.
Auch in anderen Teilen des Landes ergab sich die über fast zwei Jahrzehnte mit Milliarden US-Dollar finanzierte und am Leben gehaltene Armee den Aufständischen ohne Gegenwehr. Ähnlich rasch verlief nun der Fall der afghanischen Hauptstadt Kabul. In nur knapp zwei Wochen hatten die Taliban in einer der vielleicht erfolgreichsten Guerilla-Aktionen der Geschichte das ganze Land eingenommen. Damit beginnt am Hindukusch eine neue, ungewisse Zukunft.
Friedlich soll dabei alles zugehen, versicherten die Aufständischen immer wieder.
Ausländer wurden aufgefordert, entweder das Land zu verlassen oder sich in einem Büro der Taliban zu registrieren. Im Präsidentenpalast von Kabul verhandelten laut dem Sender Vertreter der Taliban über eine Übergangsregierung. Das kommt einer Kapitulation der afghanischen Regierung gleich.
Der Sprecher der Taliban, Suhail Schahin, sagte dem katarischen Nachrichtensender
dann auch, die Aufständischen erwarteten von der Regierung „eine friedliche Übergabe von Kabul City“– eine „bedingungslose Kapitulation“.
In der Hauptstadt waren Auflösungserscheinungen zu beobachten. Behörden und Regierungsgebäude wurden von Beschäftigten fluchtartig verlassen. Der Flughafen von Kabul war für viele die letzte Chance, das Land zu verlassen, da die Taliban alle Übergänge an den Landesgrenzen unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Kabul war voll von vor den Taliban geflüchteter Menschen, die in Parks und auf öffentlichen Plätzen kampierten und eine Rückkehr der harschen Auslegung des islamischen Rechts mitsamt der Eliminierung von Frauenrechten befürchteten.
Vom Gelände der US-Botschaft unweit des Präsidentenpalasts stieg Rauch auf, weil offenbar wichtige Dokumente in letzter Minute verbrannt werden mussten. Helikopter flogen Diplomaten und Mitarbeiter Richtung Flughafen. Die Evakuierung sei „in vollem Gange“, berichtete unter Berufung auf einen USRegierungsbeamten.
Am Sonntag bereiteten sich Einwohner von Kabul bereits auf die Ankunft der Taliban vor. Vor einem Brautkleidergeschäft im Zentrum der Stadt, wo bislang glückliche Frauengesichter von Plakaten lächelten, malten Arbeiter alle Bilder mit weißer Farbe über. Inhaftierte Taliban-Kämpfer verließen froh das Kabuler Zentralgefängnis, nachdem Wächter ihnen die Türen geöffnet hatten.
Afghanistans Präsident Ashraf Ghani hatte sich noch am Samstag trotz massiven Drucks geweigert, zurückzutreten, am Sonntag hieß es, er sei außer Landes geflohen. Dem 72-jährigen Ökonomen, der 2014 erstmals zum Präsidenten gewählt wurde, war es nicht gelungen, seine Anti-Taliban-Koalition aus Milizenführern und anderen Regionalfürsten zusammenzuhalten, in einem Land, in dem Stammeszugehörigkeiten und regionale Loyalitäten die alles entscheidende Rolle spielen. Mit eigenwilligen Personalentscheidungen hatte Ghani zuletzt viele Sympathien verspielt.
Hingegen konnten die Taliban, die selbst ebenfalls ein lockerer Zusammenschluss lokaler Kommandanten mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Interessen sind, ihre Männer besser bei der Stange halten.
Am Ende ergab sich die 300.000 Mann starke Truppe der Armee lieber kampflos, als für die Regierung in Kabul zu kämpfen, die für viele Armeeangehörige nur ein Konstrukt fremder Mächte ist.
Das kommende Jahr wird nun zeigen, welche Richtung Afghanistan einschlägt. Das Schreckensregime der Taliban in den 1990er-Jahren ist für viele Afghanen noch in traumatischer Erinnerung. Frauen und Mädchen wurden damals ins Haus verbannt, Musik und Tanz verboten und Gegner des Regimes auf brutalste Weise umgebracht. Öffentliche Hinrichtungen im Fußballstadion von Kabul unter „Allah ist groß“-Rufen der Zuschauer gehörten zum Alltag.
Mit demAbzugder USAund der NATO vom Hindukusch sind es nun andere regionale Mächte, etwa China und Russland, die Einfluss auf Afghanistan ausüben werden.