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Afghanista­n fällt fast ohne Gegenwehr

Die Taliban verspreche­n eine friedliche Übernahme. Doch die Menschen am Hindukusch haben Angst. Und die Veränderun­gen lassen nicht auf sich warten.

- Kristina Dunz und Agnes Tandler

¥ Kabul/Berlin. Die Einwohner von Asadabad in der Provinz Kunar sind wütend auf die Armee: „Flieht nicht!“, fordern sie von den Soldaten. Vergebens. Die afghanisch­en Truppen schießen vor dem Einmarsch der Taliban mit ihren Gewehren nur ein paar Mal in die Luft, dann ergreifen sie die Flucht. In der Stadt Ghasni wiederum überreicht der Gouverneur einen Blumenstra­uß an die Aufständis­chen und räumt dann sein Büro. Binnen Tagen ist ganz Afghanista­n praktisch kampflos an die Taliban gefallen.

Auch in anderen Teilen des Landes ergab sich die über fast zwei Jahrzehnte mit Milliarden US-Dollar finanziert­e und am Leben gehaltene Armee den Aufständis­chen ohne Gegenwehr. Ähnlich rasch verlief nun der Fall der afghanisch­en Hauptstadt Kabul. In nur knapp zwei Wochen hatten die Taliban in einer der vielleicht erfolgreic­hsten Guerilla-Aktionen der Geschichte das ganze Land eingenomme­n. Damit beginnt am Hindukusch eine neue, ungewisse Zukunft.

Friedlich soll dabei alles zugehen, versichert­en die Aufständis­chen immer wieder.

Ausländer wurden aufgeforde­rt, entweder das Land zu verlassen oder sich in einem Büro der Taliban zu registrier­en. Im Präsidente­npalast von Kabul verhandelt­en laut dem Sender Vertreter der Taliban über eine Übergangsr­egierung. Das kommt einer Kapitulati­on der afghanisch­en Regierung gleich.

Der Sprecher der Taliban, Suhail Schahin, sagte dem katarische­n Nachrichte­nsender

dann auch, die Aufständis­chen erwarteten von der Regierung „eine friedliche Übergabe von Kabul City“– eine „bedingungs­lose Kapitulati­on“.

In der Hauptstadt waren Auflösungs­erscheinun­gen zu beobachten. Behörden und Regierungs­gebäude wurden von Beschäftig­ten fluchtarti­g verlassen. Der Flughafen von Kabul war für viele die letzte Chance, das Land zu verlassen, da die Taliban alle Übergänge an den Landesgren­zen unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Kabul war voll von vor den Taliban geflüchtet­er Menschen, die in Parks und auf öffentlich­en Plätzen kampierten und eine Rückkehr der harschen Auslegung des islamische­n Rechts mitsamt der Eliminieru­ng von Frauenrech­ten befürchtet­en.

Vom Gelände der US-Botschaft unweit des Präsidente­npalasts stieg Rauch auf, weil offenbar wichtige Dokumente in letzter Minute verbrannt werden mussten. Helikopter flogen Diplomaten und Mitarbeite­r Richtung Flughafen. Die Evakuierun­g sei „in vollem Gange“, berichtete unter Berufung auf einen USRegierun­gsbeamten.

Am Sonntag bereiteten sich Einwohner von Kabul bereits auf die Ankunft der Taliban vor. Vor einem Brautkleid­ergeschäft im Zentrum der Stadt, wo bislang glückliche Frauengesi­chter von Plakaten lächelten, malten Arbeiter alle Bilder mit weißer Farbe über. Inhaftiert­e Taliban-Kämpfer verließen froh das Kabuler Zentralgef­ängnis, nachdem Wächter ihnen die Türen geöffnet hatten.

Afghanista­ns Präsident Ashraf Ghani hatte sich noch am Samstag trotz massiven Drucks geweigert, zurückzutr­eten, am Sonntag hieß es, er sei außer Landes geflohen. Dem 72-jährigen Ökonomen, der 2014 erstmals zum Präsidente­n gewählt wurde, war es nicht gelungen, seine Anti-Taliban-Koalition aus Milizenfüh­rern und anderen Regionalfü­rsten zusammenzu­halten, in einem Land, in dem Stammeszug­ehörigkeit­en und regionale Loyalitäte­n die alles entscheide­nde Rolle spielen. Mit eigenwilli­gen Personalen­tscheidung­en hatte Ghani zuletzt viele Sympathien verspielt.

Hingegen konnten die Taliban, die selbst ebenfalls ein lockerer Zusammensc­hluss lokaler Kommandant­en mit unterschie­dlichen wirtschaft­lichen und politische­n Interessen sind, ihre Männer besser bei der Stange halten.

Am Ende ergab sich die 300.000 Mann starke Truppe der Armee lieber kampflos, als für die Regierung in Kabul zu kämpfen, die für viele Armeeangeh­örige nur ein Konstrukt fremder Mächte ist.

Das kommende Jahr wird nun zeigen, welche Richtung Afghanista­n einschlägt. Das Schreckens­regime der Taliban in den 1990er-Jahren ist für viele Afghanen noch in traumatisc­her Erinnerung. Frauen und Mädchen wurden damals ins Haus verbannt, Musik und Tanz verboten und Gegner des Regimes auf brutalste Weise umgebracht. Öffentlich­e Hinrichtun­gen im Fußballsta­dion von Kabul unter „Allah ist groß“-Rufen der Zuschauer gehörten zum Alltag.

Mit demAbzugde­r USAund der NATO vom Hindukusch sind es nun andere regionale Mächte, etwa China und Russland, die Einfluss auf Afghanista­n ausüben werden.

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