Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

Chronik des Versagens

Noch vor kurzem zeigt sich der Westen zuversicht­lich, dass die afghanisch­e Armee die Lage unter Kontrolle halten wird. Nun ist Kabul gefallen. Viele Menschen wollen fliehen, auf dem Airport herrscht das pure Chaos.

- Damir Fras, Jan Sternberg, Tim Szent-Ivanyi und Antea Obinja

¥ Kabul. Sie wollen nur raus. Raus aus Kabul. Weg von den Taliban. Tausende von Menschen sind am Montag auf dem internatio­nalen Flughafen der afghanisch­en Hauptstadt auf der Flucht von den Radikalisl­amisten gestrandet. Es fallen Schüsse. Wer da schießt, ist unklar. Einmal heißt es, die USSoldaten auf dem Flughafen lieferten sich ein Gefecht mit den Taliban. Andere sagen, es handle sich um Warnschüss­e in die Luft. Es soll Tote gegeben haben auf dem Flughafen der letzten Hoffnung.

Auf einem Video ist zu sehen, wie Hunderte von Menschen versuchen, über eine wacklige Gangway in ein Flugzeug zu gelangen, in dem es nicht einmal für einen Bruchteil der Menge Platz gäbe. Andere Aufnahmen zeigen Verzweifel­te, die auf der Startbahn neben einer US-Militärmas­chine laufen, einige klammern sich an den Radkästen fest. Schrecklic­he Bilder sollen dokumentie­ren, wie Personen von einem Flugzeug fallen, das sich bereits in der Luft befindet. Eine unabhängig­e Bestätigun­g für die entsetzlic­hen Bilder gibt es zunächst nicht.

Das Afghanista­n-Engagement der internatio­nalen Gemeinscha­ft geht nach bald 20 Jahren im Chaos zu Ende. Die Szenerie wirkt schlimmer als der Abzug der US-Amerikaner 1975 aus Saigon. Bundeskanz­lerin Angela Merkel spricht von „bitteren Stunden“. Tausende von Menschen sind in Lebensgefa­hr und warten darauf, ausgefloge­n zu werden. Die Luftbrücke der Amerikaner, Briten, Kanadier, Inder und anderer läuft seit dem Wochenende. Eine C-17 der Amerikaner, ausgelegt für 100 Fallschirm­jäger, hat laut ihrem Piloten 800 Verzweifel­te ausgefloge­n.

Und wo bleiben die Deutschen? Die ersten Bundeswehr­maschinen waren am Montag auf dem Weg nach Kabul, konnten aber am Abend zunächst nicht landen und mussten umgeleitet werden. „Die Lage ist sehr dynamisch“, sagen Regierungs­sprecher. Chaotisch wäre der bessere Ausdruck. Das Versagen ist mit Händen zu greifen.

Wer eine Chronik dieses Versagens schreiben will, kann damit gut am 9. Juni beginnen. Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) äußert sich im Bundestag zur Lage in Afghanista­n. Er sagt: „Ich will mal sagen, all diese Fragen haben ja die Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban in Afghanista­n das Zepter in der wird, bis die Taliban wieder das Sagen in Afghanista­n haben. Vielleicht will die Regierung aber auch nicht daran glauben, wie schnell es gehen könnte. An diesem Tag debattiert der Bundestag über einen Antrag der Grünen zur „großzügige­n Aufnahme afghanisch­er Ortskräfte, die für deutsche Behörden und Organisati­onen arbeiten oder gearbeitet haben“. Die Debatte dauert gerade einmal 30 Minuten. Dann lehnen die Regierungs­fraktionen von Union und SPD den Antrag ab, die Linksfrakt­ion stimmt mit den Grünen dafür, die FDP enthält sich.

Zweieinhal­b Monate später dämmert manchem Politiker, dass er damals einen Fehler gemacht hat. Der Bundestags­abgeordnet­e Roderich Kiesewette­r (CDU) twittert am späten Sonntagabe­nd: „Es war ein großer und gravierend­er Fehler, den Antrag der Grünen – aus Prinzip – abzulehnen. Punkt.“Kiesewette­r ist Sicherheit­sexperte der Union und Afghanista­n-Veteran im Range eines Oberst. „Anträge der Opposition werden in den Ausschüsse­n grundsätzl­ich abgelehnt, gute Gedanken fließen dann in Regierungs­anträge ein“, erklärt er das übliche Vorgehen. Und sagt dann: „In Zeiten paralleler Krisen können wir uns dieses Vorgehen nicht mehr leisten. Wir haben nicht in Szenarien gedacht. Das Szenario einer sofortigen Übernahme durch die Taliban wurde nicht diskutiert.“

Kiesewette­r kritisiert seine Bundesregi­erung scharf: „Es wurde viel Zeit vergeudet in der Abstimmung zwischen Innenminis­terium, Auswärtige­m Amt und Verteidigu­ngsministe­rium.“Daher fordert er jetzt einen Nationalen Sicherheit­srat im Bundeskanz­leramt, „der Szenarien entwickeln kann, an denen die Politik dann nicht mehr vorbeikomm­t“.

Aber auch in Afghanista­n hatte „niemand mehr ein realistisc­hes Bild“, kritisiert Kiesewette­r. Noch im Juni machten sich selbst deutsche Entwicklun­gshelfer im Land noch keine allzu großen Sorgen. Zudem habe es zunächst Berichte gegeben, wonach die Taliban sich nach der Besetzung von Gebieten korrekt verhalten und Entwicklun­gsprojekte nicht angetastet hätten, heißt es aus dem Entwicklun­gsminister­ium.

Inzwischen räumt die Bundesregi­erung zwar ein, dass sie die Lage falsch eingeschät­zt habe. Aber sie weist dennoch alle Vorwürfe zurück, sie habe zu spät gehandelt, weil sich Außen- und Verteidigu­ngsministe­rium nicht einig gewesen seien.

 ??  ?? Verzweifel­te Afghanen versuchen in Kabul ein Flugzeug zu besteigen, um fliehen zu können.
Verzweifel­te Afghanen versuchen in Kabul ein Flugzeug zu besteigen, um fliehen zu können.

Newspapers in German

Newspapers from Germany