Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
Chronik des Versagens
Noch vor kurzem zeigt sich der Westen zuversichtlich, dass die afghanische Armee die Lage unter Kontrolle halten wird. Nun ist Kabul gefallen. Viele Menschen wollen fliehen, auf dem Airport herrscht das pure Chaos.
¥ Kabul. Sie wollen nur raus. Raus aus Kabul. Weg von den Taliban. Tausende von Menschen sind am Montag auf dem internationalen Flughafen der afghanischen Hauptstadt auf der Flucht von den Radikalislamisten gestrandet. Es fallen Schüsse. Wer da schießt, ist unklar. Einmal heißt es, die USSoldaten auf dem Flughafen lieferten sich ein Gefecht mit den Taliban. Andere sagen, es handle sich um Warnschüsse in die Luft. Es soll Tote gegeben haben auf dem Flughafen der letzten Hoffnung.
Auf einem Video ist zu sehen, wie Hunderte von Menschen versuchen, über eine wacklige Gangway in ein Flugzeug zu gelangen, in dem es nicht einmal für einen Bruchteil der Menge Platz gäbe. Andere Aufnahmen zeigen Verzweifelte, die auf der Startbahn neben einer US-Militärmaschine laufen, einige klammern sich an den Radkästen fest. Schreckliche Bilder sollen dokumentieren, wie Personen von einem Flugzeug fallen, das sich bereits in der Luft befindet. Eine unabhängige Bestätigung für die entsetzlichen Bilder gibt es zunächst nicht.
Das Afghanistan-Engagement der internationalen Gemeinschaft geht nach bald 20 Jahren im Chaos zu Ende. Die Szenerie wirkt schlimmer als der Abzug der US-Amerikaner 1975 aus Saigon. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von „bitteren Stunden“. Tausende von Menschen sind in Lebensgefahr und warten darauf, ausgeflogen zu werden. Die Luftbrücke der Amerikaner, Briten, Kanadier, Inder und anderer läuft seit dem Wochenende. Eine C-17 der Amerikaner, ausgelegt für 100 Fallschirmjäger, hat laut ihrem Piloten 800 Verzweifelte ausgeflogen.
Und wo bleiben die Deutschen? Die ersten Bundeswehrmaschinen waren am Montag auf dem Weg nach Kabul, konnten aber am Abend zunächst nicht landen und mussten umgeleitet werden. „Die Lage ist sehr dynamisch“, sagen Regierungssprecher. Chaotisch wäre der bessere Ausdruck. Das Versagen ist mit Händen zu greifen.
Wer eine Chronik dieses Versagens schreiben will, kann damit gut am 9. Juni beginnen. Außenminister Heiko Maas (SPD) äußert sich im Bundestag zur Lage in Afghanistan. Er sagt: „Ich will mal sagen, all diese Fragen haben ja die Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban in Afghanistan das Zepter in der wird, bis die Taliban wieder das Sagen in Afghanistan haben. Vielleicht will die Regierung aber auch nicht daran glauben, wie schnell es gehen könnte. An diesem Tag debattiert der Bundestag über einen Antrag der Grünen zur „großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die für deutsche Behörden und Organisationen arbeiten oder gearbeitet haben“. Die Debatte dauert gerade einmal 30 Minuten. Dann lehnen die Regierungsfraktionen von Union und SPD den Antrag ab, die Linksfraktion stimmt mit den Grünen dafür, die FDP enthält sich.
Zweieinhalb Monate später dämmert manchem Politiker, dass er damals einen Fehler gemacht hat. Der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter (CDU) twittert am späten Sonntagabend: „Es war ein großer und gravierender Fehler, den Antrag der Grünen – aus Prinzip – abzulehnen. Punkt.“Kiesewetter ist Sicherheitsexperte der Union und Afghanistan-Veteran im Range eines Oberst. „Anträge der Opposition werden in den Ausschüssen grundsätzlich abgelehnt, gute Gedanken fließen dann in Regierungsanträge ein“, erklärt er das übliche Vorgehen. Und sagt dann: „In Zeiten paralleler Krisen können wir uns dieses Vorgehen nicht mehr leisten. Wir haben nicht in Szenarien gedacht. Das Szenario einer sofortigen Übernahme durch die Taliban wurde nicht diskutiert.“
Kiesewetter kritisiert seine Bundesregierung scharf: „Es wurde viel Zeit vergeudet in der Abstimmung zwischen Innenministerium, Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium.“Daher fordert er jetzt einen Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt, „der Szenarien entwickeln kann, an denen die Politik dann nicht mehr vorbeikommt“.
Aber auch in Afghanistan hatte „niemand mehr ein realistisches Bild“, kritisiert Kiesewetter. Noch im Juni machten sich selbst deutsche Entwicklungshelfer im Land noch keine allzu großen Sorgen. Zudem habe es zunächst Berichte gegeben, wonach die Taliban sich nach der Besetzung von Gebieten korrekt verhalten und Entwicklungsprojekte nicht angetastet hätten, heißt es aus dem Entwicklungsministerium.
Inzwischen räumt die Bundesregierung zwar ein, dass sie die Lage falsch eingeschätzt habe. Aber sie weist dennoch alle Vorwürfe zurück, sie habe zu spät gehandelt, weil sich Außen- und Verteidigungsministerium nicht einig gewesen seien.