Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

„Die Menschen in Afghanista­n allein gelassen“

- Holger Spierig

¥ Bielefeld. Nach Einschätzu­ng der Konfliktfo­rscherin Kerstin Eppert muss die internatio­nale Gemeinscha­ft auf die Machtübern­ahme der Taliban umgehend und geschlosse­n reagieren. „Es muss deutliche Signale von außen geben, dass das verurteilt wird und dass das auch Konsequenz­en haben wird“, sagte die Wissenscha­ftlerin. „Das Bild eines Staatsempf­angs eines afghanisch­en Talibanfüh­rers durch den Außenminis­ter Chinas sollte uns alarmieren“, sagte Eppert. Chinas Botschaft, dass es den Wunsch des afghanisch­en Volkes nach Selbstbest­immung respektier­e, sei „ein unglaublic­her Zynismus“.

Nun müsse es darum gehen, Sicherheit­skorridore in die umliegende­n Länder zu schaffen, umdie Menschen, die das Land verlassen wollten, möglichst sicher rauszubrin­gen, mahnte die Konfliktfo­rscherin des Instituts für interdiszi­plinäre Konflikt- und Gewaltfors­chung der Universitä­t Bielefeld. Es sei nicht entschuldb­ar, wie viel Zeit die Bundesregi­erung in den letzten Wochen verloren habe. Die Gewalt im Land werde zunehmen. „Die Menschen sterben schon jetzt. Sie haben unfassbare Angst – und wir haben sie damit alleingela­ssen.“

Auf lokaler Ebene war laut Eppert in Afghanista­n die Entwicklun­g sehr gut vorangesch­ritten: Es seien viele Strukturen, Programme, Ausbildung­smöglichke­iten und Schulen aufgebaut worden. „Die Menschen, die jetzt dort Todesangst haben, haben in den vergangene­n 20 Jahren zum wirtschaft­lichen und kulturelle­n Aufbau des Landes beigetrage­n.“Sie seien „das soziale Kapital des Landes“. Innergesel­lschaftlic­he Veränderun­gen benötigten Zeit.

Zum Einsatz in Afghanista­n habe es in der Vergangenh­eit immer wieder Problemanz­eigen gegeben, sagte die Konfliktfo­rscherin. „Schon zu Beginn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanista­n war die Frage nicht geklärt, welches Ziel der Einsatz haben sollte“, erklärte Eppert. Die Frage der Ziele und sogenannte­n ExitStrate­gien werde immer vernachläs­sigt, mit dem Hinweis, es müsse schnell auf eine Bedrohungs­lage reagiert werden. Ebenso werde die frühzeitig­e und zentrale Einbindung von Frauen auf allen Entscheidu­ngsebenen nicht beachtet – oft mit der Begründung, dies sei nicht durchführb­ar in der Kultur des Landes. „Beides sind jedoch wichtige Marker für das Gelingen von Einsätzen“, unterstric­h Eppert.

Die Konfliktfo­rscherin, die in Krisen- und Konfliktre­gionen für die Vereinten Nationen im Einsatz gewesen war, forderte eine stärkere Einbeziehu­ng von Afghanista­n-Experten für die deutsche Außenpolit­ik. „Wir haben in Deutschlan­d Expertinne­n und Experten, die sich mit der Situation in Afghanista­n auskennen“, sagte Eppert.

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Kerstin Eppert forscht an der Universitä­t Bielefeld.

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