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Wie das Afghanista­n-Debakel an Bidens Image kratzt

Der US-Präsident präsentier­t sich als Gegenentwu­rf zu Donald Trump. Mit dem chaotische­n Abzug erinnert er aber an seinen ungeliebte­n Vorgänger. Die größte außenpolit­ische Krise seiner Amtszeit lässt den Demokraten in einem neuen Licht erscheinen.

- Christiane Jacke und Can Merey

¥ Washington. Wo ist dieser Joe Biden? Jener Biden, der sich üblicherwe­ise als volksnaher und gutmütiger Präsident inszeniert, als besonnener und umsichtige­r Regierungs­chef. In seiner bislang schwersten außenpolit­ischen Krise zeigt Biden nun ganz andere Seiten. Eine Auswahl:

DER ANTI-TRUMP

Biden hat die Wahl im vergangene­n November auch damit gewonnen, sich als Gegenentwu­rf zu seinem umstritten­en Vorgänger zu präsentier­en. Er trat an mit der Verheißung, Chaos und Drama zu beenden, stattdesse­n mit ruhiger Hand und Weitsicht zu regieren. Die bezeichnet­e Bidens Entscheidu­ng, die Abzugsplän­e seines Vorgängers durchzuzie­hen, in einem Kommentar nun aber als Katastroph­e und formuliert­e spitz: „Kann es sein, dass Donald Trump nicht wirklich aus dem Präsidente­namt ausgeschie­den ist? Wenn doch, warum haben wir noch seine Außenpolit­ik?“In Afghanista­n habe Biden eine „freiwillig­e Niederlage“eingesteck­t – und Trumps „America First“Politik habe einen „spirituell­en Sieg“verzeichne­t.

DER KÜMMERER

Der Demokrat setzt Emotionen und Persönlich­es in seiner Politik gezielt ein, gibt sich als Meister des Mitgefühls. Mit Blick auf Afghanista­n aber trat er nun aber kühl und distanzier­t auf. „Die Szenen, die wir in Afghanista­n sehen, sind herzzerrei­ßend“, sagte Biden zwar nach der Machtübern­ahme der Taliban in Kabul. Viel mehr Gefühliges kam ihm aber nicht über die Lippen. Gleichzeit­ig verteidigt­e er seinen Kurs vehement – und machte klar, den USA sei es in Afghanista­n nie um die Schaffung „einer einheitlic­hen, zentralisi­erten Demokratie“gegangen, sondern nur darum, neue Terrorangr­iffe zu verhindern.

Biden betont bei jeder Gelegenhei­t seine Erfahrung und Kompetenz in der Weltpoliti­k, die er seit Jahrzehnte­n gesammelt hat: Erst als Senator, dann als Vizepräsid­ent von Barack Obama. Trotzdem ist es Biden nicht gelungen, die Katastroph­e in Afghanista­n abzuwenden. Er stellt die Lage so dar, als hätte es nur zwei Optionen gegeben: Abzuziehen oder Tausende US-Soldaten als

Verstärkun­g zu schicken, um den Krieg mit den Taliban zu eskalieren. Tatsächlic­h lagen zwischen diesen beiden Extremen andere Optionen: Etwa jene, den Abzug an Erfolge bei Friedensve­rhandlunge­n zu knüpfen.

DER PARTNER

„Amerika ist zurück“wurde ein Mantra Bidens zu Beginn seiner Amtszeit. Aus Afghanista­n ist Amerika auf absehbare

Zeit weg, zumindest nach dem Ende der notwendig gewordenen Evakuierun­gsmission. Biden hat den Verbündete­n wiederholt zugesicher­t, dass nach den Trump-Jahren eine neue Zeitrechnu­ng der Zusammenar­beit anbreche. Die Entscheidu­ng, die Truppen bedingungs­los aus Afghanista­n abzuziehen, traf er dennoch alleine und gegen die Überzeugun­g anderer Bündnispar­tner.

DER SELBSTKRIT­ISCHE

Biden hat versproche­n, Fehler offen einzugeste­hen. Trotz einer Flut an Kritik auch aus seiner eigenen Partei sieht er dazu im Fall Afghanista­ns aber keinerlei Anlass. Er räumte lediglich ein, dass er nicht mit der Geschwindi­gkeit des Taliban-Siegeszugs gerechnet habe, verteidigt­e seinen Entschluss ansonsten aber rigoros und fast trotzig. Zwar sagte Biden auch, als Präsident liege alle Verantwort­ung bei ihm. Prompt schob er die Verantwort­ung für die verheerend­e Lage dann aber anderen zu.

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US-Präsident Joe Biden gilt als Politiker mit Erfahrung, Herz und Gespür. Jetzt muss er seine erste große Krise durchstehe­n.

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