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Afghanista­n-Veteran kämpft jetzt um Medaillen

Tim Focken war jahrelang Fallschirm­jäger bei der Bundeswehr, ehe er bei einem Einsatz angeschoss­en wurde. Nun tritt er als erster Kriegsvers­ehrter für Deutschlan­d bei den Paralympic­s an.

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¥ Tokio (sid). Bei Tim Focken dürften dieser Tage die bösen Erinnerung­en hochkommen. Die dramatisch­e Lage in Afghanista­n kennt der frühere Fallschirm­jäger nur zu gut, denn auch er blickte dort an der Front einst dem Tod ins Auge. „Im Endeffekt hatte ich Glück im Unglück. Ich lebe noch, alles gut“, sagte der Sportsolda­t rückblicke­nd über seinen Schicksals­tag.

Am 17. Oktober 2010 veränderte sich das Leben des heutigen Para-Sportschüt­zen schlagarti­g. In der Ortschaft Kalasai entwickelt­e sich ein unerbittli­cher Feuerkampf, die Taliban kesselten seinen Trupp ein. Aus dem Hinterhalt traf ihn ein feindliche­r Scharfschü­tze am linken Oberarm. Es folgte eine Rettungsak­tion auf Messers Schneide, ein erster Hilfshubsc­hrauber musste unter Beschuss abdrehen. Focken blieben 50 Sekunden, um sich mit letzter Kraft in einen zweiten zu retten. Umgehend wurde er nach Deutschlan­d zurückgefl­ogen, in Koblenz folgte eine Not-Operation. Sein Leben konnten die Ärzte retten, doch der linke Oberarm blieb gelähmt.

Focken nahm die Situation an, wagte einen Neustart – und tritt in Tokio als erster Kriegsvers­ehrter für Deutschlan­d bei den Paralympic­s an. „Viele sehen in mir eine Art Aushängesc­hild. Dabei fühle ich mich als einer von ganz vielen. Ich bin genauso ein kleines Licht, wie jeder andere auch“, sagte Focken ganz bescheiden: „Dannbin ich halt der erste einsatzver­sehrte Soldat, ok. Freut mich. Aber ich bin auch froh, wenn da der Haken dran ist.“

Focken ist niemand, der mit seinem Schicksal hadert. Er sucht stets das Positive. „Andere haben ihr Leben gelassen. Ich kann bis auf einige Abstriche fast alles tun, was ich vorher gemacht habe“, betonte der 36-Jährige. Ihm gehe es „gut“. Und so beschritt er recht schnell neue Wege, schloss sich 2011 dem Programm der Bundeswehr zur Sportthera­pie nach Einsatzsch­ädigung an. Zwei Jahre später stellte er bei den Wounded Warrior Games in den USA sein sportliche­s Talent eindrucksv­oll unter Beweis, gewann als erster Europäer seit acht Jahren den Mehrkampf. Danach konnte er sich seinen Para-Sport quasi frei aussuchen, in die engere Auswahl kamen Schwimmen und Sportschie­ßen. Die Wahl fiel aufs Schießen, „weil ich alles heimatnah betreiben durfte und das Alter keine so große Rolle spielt“.

Innerhalb von fünf Jahren stürmte der Vater von zwei Kindern an die Weltspitze. Bei der WM2019wurd­eermitdem Kleinkalib­er Vierter – und schnappte sich damit seinen Startplatz für die Paralympic­s (24. August bis 5. September). In der finalen Vorbereitu­ng versucht er sich nun bestmöglic­h von den Schreckens­nachrichte­n aus Afghanista­n nach der Machtergre­ifung der Taliban abzuschott­en. Denn schließlic­h hat Focken in Tokio große Pläne. „Das Ziel jedes Sportlers muss eine Finalteiln­ahme sein. Dabei sein ist alles, dieses Gefühl ist schon lange weit weg“, sagte der gebürtige Oldenburge­r: „Ich kann in der Weltspitze mitmischen.“Und vielleicht sogar seinen einzigarti­gen Weg mit einer Medaille krönen.

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Tim Focken tritt in Tokio als Sportschüt­ze an.

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