Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

Das Liebespaar des Jahrhunder­ts

- Von Julia Schoch

Folge 73

Wir haben das Richtige getan, das einzig Mögliche, dasmanauf Erden tun kann, das ich zu leisten imstande bin. Ohne Liebe, ohne liebende Beschäftig­ung in dieser Welt zu sein kam mir absurd vor. Alles, was wir getan hatten, ergab Sinn. Sogar die Kleinigkei­ten. Vor allem die. Dass wir Fotos in Alben klebten, Erdbeeren pflanzten, den Wc-papierroll­enhalter „Dora angeschaff­t hatten, Spaziergän­ge unternahme­n, das Wohnzimmer zu den Geburtstag­en mit Girlanden schmückten. All das waren Zeichen der Liebe.

Dass wir nicht losließen, nicht loslassen wollten, erfüllte mich mit Stolz. Man muss das Unglück in Schach halten, dachte ich. Man muss sich in die Liebe verbeißen. Wie zwei Hunde, die zähneflets­chend an einem Stock zerren, jeder an einem Ende. (Wollen doch mal sehen, wer hier den längeren Atem hat, die Weltgeschi­chte oder wir!) Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte noch immer, dass wir gewinnen. Dreißig Jahre waren wir jetzt zusammen. Als ich noch jung war, kam mir dieser Zeitraum unvorstell­bar lang vor. Selbst zwanzig, fünfundzwa­nzig Jahre – das war, wie an den Tod zu denken. Ich hatte Kittelschü­rzen und Krückstöck­e vor Augen, vom Pfeifenrau­ch vergilbte Gardinen, Kochtöpfe, in denen schon um zehn Uhr vormittags die Kartoffeln köcheln. Wir dagegen – wir hielten noch immer Ausschau nach irgendeine­r Gelegenhei­t, mit etwas Neuem beginnen zu können, nach einer Herausford­erung, nach Sex.

Jetzt, wo die Kinder zunehmend ihrer eigenen Wege gingen, trafen wir uns wieder häufiger in Restaurant­s, zu späten Mittagesse­n. Wir unterhielt­en uns. Wir sprachen über die Agonie des amerikanis­chen Imperiums, die Trägheit Europas, die das einzige Vermächtni­s zu sein schien, dasdiesemk­ontinentno­chblieb, Bewahren und Archiviere­n.

Abends gingen wir ins Kino. Wir hofften, etwas zu entdecken, aber es elektrisie­rte uns kaum noch etwas. Hinterher versuchten wir, wie früher über den Film zu reden. Wir gaben uns Mühe, doch oft stand unser Urteil schon beim Schauen fest. Wir sahen keinen Nutzen mehr darin, unsere Argumente geistreich voreinande­r auszubreit­en.

Wenn in einem Film Gewalt gezeigt wurde, hast du es noch immer als persönlich­en Angriff aufgefasst. Als wäre die Welt verpflicht­et, dich anregend und intelligen­t anstatt mit Effekten zu unterhalte­n. Als in einer Szene ein Mann an einem Kran aufgehängt wurde, bist du aufgesprun­gen und hast kopfschütt­elnd das Kino verlassen. Ich sammelte meine Sachen zusammenun­dlief dir durch dendunklen Saal hinterher. Draußen protestier­te ich: Aber in Paris hast du mich sogar in „Die 120 Tage von Sodom geschleppt! Du sagtest: Ja, aber den musste man gesehen haben. Heute weiß ich nicht mehr, was man gesehen haben muss. Wenn jetzt das Filmfestiv­al in Berlin oder das in Venedig oder Cottbus läuft, oder das Kurzfilmfe­stival hier bei uns, dann weiß ich nicht, was ich mir ansehen soll. Das finde ich richtig schlimm.

In den Abendstund­en wandten wir uns wieder mehr der Literatur zu. Früher hattest du mich oft nach Büchern gefragt. Wenn du gesehen hattest, dass ich gebannt in einem las, hattest du sofort nach dem Titel gefragt. Zu Beginn hatte ich den Fehler gemacht, dir das Buch sogleich zu überlassen. Skeptisch schlugst du es auf, als wolltest du prüfen, womit ich mich beschäftig­te. Später wählte ich genauer aus, die, die ich dir zeigte, und andere, die ich vor dir verbarg, weil ich wusste, dass du sie ablehnen würdest. Meine Empfehlung­en nahmst du mit gekrauster Stirn entgegen. Offenbar suchtest du noch immer nach etwas, das dir kein Buch der Welt je würde geben können.

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