Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
Das Liebespaar des Jahrhunderts
Folge 73
Wir haben das Richtige getan, das einzig Mögliche, dasmanauf Erden tun kann, das ich zu leisten imstande bin. Ohne Liebe, ohne liebende Beschäftigung in dieser Welt zu sein kam mir absurd vor. Alles, was wir getan hatten, ergab Sinn. Sogar die Kleinigkeiten. Vor allem die. Dass wir Fotos in Alben klebten, Erdbeeren pflanzten, den Wc-papierrollenhalter „Dora angeschafft hatten, Spaziergänge unternahmen, das Wohnzimmer zu den Geburtstagen mit Girlanden schmückten. All das waren Zeichen der Liebe.
Dass wir nicht losließen, nicht loslassen wollten, erfüllte mich mit Stolz. Man muss das Unglück in Schach halten, dachte ich. Man muss sich in die Liebe verbeißen. Wie zwei Hunde, die zähnefletschend an einem Stock zerren, jeder an einem Ende. (Wollen doch mal sehen, wer hier den längeren Atem hat, die Weltgeschichte oder wir!) Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte noch immer, dass wir gewinnen. Dreißig Jahre waren wir jetzt zusammen. Als ich noch jung war, kam mir dieser Zeitraum unvorstellbar lang vor. Selbst zwanzig, fünfundzwanzig Jahre – das war, wie an den Tod zu denken. Ich hatte Kittelschürzen und Krückstöcke vor Augen, vom Pfeifenrauch vergilbte Gardinen, Kochtöpfe, in denen schon um zehn Uhr vormittags die Kartoffeln köcheln. Wir dagegen – wir hielten noch immer Ausschau nach irgendeiner Gelegenheit, mit etwas Neuem beginnen zu können, nach einer Herausforderung, nach Sex.
Jetzt, wo die Kinder zunehmend ihrer eigenen Wege gingen, trafen wir uns wieder häufiger in Restaurants, zu späten Mittagessen. Wir unterhielten uns. Wir sprachen über die Agonie des amerikanischen Imperiums, die Trägheit Europas, die das einzige Vermächtnis zu sein schien, dasdiesemkontinentnochblieb, Bewahren und Archivieren.
Abends gingen wir ins Kino. Wir hofften, etwas zu entdecken, aber es elektrisierte uns kaum noch etwas. Hinterher versuchten wir, wie früher über den Film zu reden. Wir gaben uns Mühe, doch oft stand unser Urteil schon beim Schauen fest. Wir sahen keinen Nutzen mehr darin, unsere Argumente geistreich voreinander auszubreiten.
Wenn in einem Film Gewalt gezeigt wurde, hast du es noch immer als persönlichen Angriff aufgefasst. Als wäre die Welt verpflichtet, dich anregend und intelligent anstatt mit Effekten zu unterhalten. Als in einer Szene ein Mann an einem Kran aufgehängt wurde, bist du aufgesprungen und hast kopfschüttelnd das Kino verlassen. Ich sammelte meine Sachen zusammenundlief dir durch dendunklen Saal hinterher. Draußen protestierte ich: Aber in Paris hast du mich sogar in „Die 120 Tage von Sodom geschleppt! Du sagtest: Ja, aber den musste man gesehen haben. Heute weiß ich nicht mehr, was man gesehen haben muss. Wenn jetzt das Filmfestival in Berlin oder das in Venedig oder Cottbus läuft, oder das Kurzfilmfestival hier bei uns, dann weiß ich nicht, was ich mir ansehen soll. Das finde ich richtig schlimm.
In den Abendstunden wandten wir uns wieder mehr der Literatur zu. Früher hattest du mich oft nach Büchern gefragt. Wenn du gesehen hattest, dass ich gebannt in einem las, hattest du sofort nach dem Titel gefragt. Zu Beginn hatte ich den Fehler gemacht, dir das Buch sogleich zu überlassen. Skeptisch schlugst du es auf, als wolltest du prüfen, womit ich mich beschäftigte. Später wählte ich genauer aus, die, die ich dir zeigte, und andere, die ich vor dir verbarg, weil ich wusste, dass du sie ablehnen würdest. Meine Empfehlungen nahmst du mit gekrauster Stirn entgegen. Offenbar suchtest du noch immer nach etwas, das dir kein Buch der Welt je würde geben können.