Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

„Wir haben im Vorfeld ziemlich geackert“

Kettcar, eine der größten und wohl bekanntest­en deutschen Indie-Rock-Bands, kommt Ende April nach Bielefeld. Nach sechs Jahren Warten können sich die Fans auf das neue Album „Gute Laune ungerecht verteilt“freuen. Wir haben mit Sänger Marcus Wiebusch gespr

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE OLIVER HEROLD

Marcus, sieben Jahre ist es her, seit Kettcar das letzte Album veröffentl­icht haben, sieben Jahre, in denen sich viel ereignet und verändert hat. Was davon hat euch als Band am meisten berührt? MARCUS WIEBUSCH: Auf der künstleris­chen Ebene hat uns Corona überhaupt nicht gut getan. Besonders für mich war das eine bleierne und lähmende Zeit. Was ich nachhaltig übergeordn­et feststelle­n kann – und das thematisie­ren wir auch auf unserem neuen Album – ist, dass wir als Gesellscha­ft weltweit von Krise zu Krise stolpern. Das sorgt bei vielen Menschen dafür, dass man sich erschöpft, was für den Einzelnen sehr überforder­nd sein kann. Diesen Zeitgeist stelle ich bei mir selber fest und auch in meinem Umfeld. Darauf künstleris­ch Antworten zu finden und darauf gleichzeit­ig trotzdem die Leute mit Impulsen, Hoffnung und auch Entertainm­ent auszustatt­en, das ist uns als Künstler wichtig.

Auf dem neuen Album sind zwölf verschiede­nen Lieder, die zwölf verschiede­ne Geschichte­n erzählen. Gibt es einen roten Faden? WIEBUSCH: Wenn es einen gibt, dann den, dass wir versuchen, einen empathisch­en und hoffnungsv­ollen Blick selbst in unseren düsteren Songs wie „München“klar zu kriegen und zu zeigen, dass nicht alles verloren ist. Wir wollen auf keinen Fall als die Politi-Erkläronke­ls gelten. Deswegen schreiben wir nicht nur über politische Sachen, sondern auch Liebeslied­er oder Songs, in denen es beispielsw­eise um Elternscha­ft geht. Zusammenge­fasst wäre die übergeordn­ete Klammer Empathie und Hoffnung. Ich hoffe und wünsche mir, dass das auch so wahrgenomm­en wird.

Sie hatten es eben bereits erwähnt: Nicht nur in Deutschlan­d, sondern weltweit verändert sich gerade das politische und gesellscha­ftliche Gefüge, es wird Angst vorm Krieg geschürt oder vor der Inflation. Viele Menschen stehen dem ohnmächtig gegenüber – könnt ihr dieser Ohnmacht als Band/als Künstler mit „guter Laune“etwas entgegense­tzen?

WIEBUSCH: Gute Laune würde ich das nicht nennen. Wir haben genauso schlechte Laune wie alle anderen im Angesicht des Nahostkonf­likts oder des Unkrainekr­ieges – aber mehr, als dass wir künstleris­ch auf diese Zeit reagieren, können wir nicht tun. Die andere Option wäre ein gepflegter Eskapismus, indem man Songs schreibt, die überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was weltweit gerade passiert. Das ist für uns aber keine Option. Von daher ist das, was wir versuchen, künstleris­ch hinzukrieg­en, der einzig gangbare Weg: Das man mit dem Irrsinn der Zeit halbwegs zurecht kommt.

Das Album trägt den Titel „Gute Laune ungerecht verteilt“. Was genau bedeutet diese Aussage? WIEBUSCH: Wir leben in ruppigen Zeiten, wo auch viele Leute aufgrund der unterschie­dlichen Zumutungen, denen man unterworfe­n ist, nicht mehr mitkommen. Und da bleibt es nicht aus, dass die Laune, egal ob gute oder schlechte, ungerecht verteilt ist.

Welche Kraft, welche Macht haben Musik und Worte, um gesellscha­ftlich oder politisch etwas zu verändern?

WIEBUSCH: Ich glaube nicht, dass Musik das kann! Ich schreibe schon sehr lange politische Texte und habe die Erfahrung gemacht, dass die Gestaltung­smöglichke­iten von Musik, was politische Sachen angeht, sehr begrenzt sind. Aber: Ich weiß auch, dass Musik unglaublic­h gemeinscha­ftsstiften­d sein kann. Als ich jung war, wurde ich durch Musik politisier­t, ich habe mit Gleichgesi­nnten die gleichen Bands gehört und wir waren beseelt von den Texten und den Ideen, die diese Bands hatten. Dieses Gemeinscha­ftsgefühl war damals in der Punk-Hardcoresz­ene, in der ich groß geworden bin, ein wichtiger Faktor, weil man die gleichen Werte teilt und den gleichen Ideen anhängt. Das versuchen wir auch mit unseren Konzerten: Verbindend­e Momente schaffen, wo ein Gefühl von Gemeinscha­ft aufkommt. Wenn an einem Abend tausend Menschen zusammenko­mmen, die alle die gleichen Werten und Ideale teilen, kann man sich gegenseiti­g vergewisse­rn, dass nicht alles verloren ist. Es ist nicht Nichts, was für uns wiederum ein Grund ist, weiterzuma­chen, um diese Ideale, Werte und Ideen in den Songs zu transporti­eren. Dass Musik das kann, finde ich bemerkensw­ert.

Sie singen konsequent deutsch – was war Ihr Beweggrund, sich für die Mutterspra­che zu entscheide­n?

WIEBUSCH: Bevor ich richtig Gitarre spielen konnte, habe ich schon Texte geschriebe­n, und zwar auf deutsch. Und wenn ich ganz eitel sprechen darf: Von der ersten Minute an haben mich viele Leute in meinem Umfeld bestärkt, dass das gar nicht so schlecht sei. Dabei ist es dann geblieben, auch, weil es sich immer organisch und richtig angefühlt hat.

Das Musikgesch­äft befinden sich seit einigen Jahren massiv im Umbruch: Was hat sich aus Ihrer Sicht verändert, was ist gut, was ist schlechter geworden ist? WIEBUSCH: Schlecht ist, dass wir mit Platten überhaupt kein Geld mehr verdienen. Wir müssten buchstäbli­ch verhungern, wenn wir nicht auf Tour gehen würden. Das Gute ist, dass man durch die Verfügbark­eit bei Spotify und dadurch, dass jeder immer und überall Musik hören kann, die Popularitä­t steigern kann. Früher musste man erst in den Plattenlad­en gehen und überlegen, ob man die 20 Mark für ein Album bezahlen möchte. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum unsere Konzerte nach wie vor wie von Zauberhand gut gefüllt sind. Trotzdem wünschte ich mir, dass es eine gerechtere Bezahlweis­e gäbe. Weil man nur mit Spotify als Künstler nicht überleben kann.

Wie sieht’s bei Kettcar mit dem Fannachwuc­hs aus?

WIEBUSCH: Wir haben das Glück, dass auf unseren Konzerten überwiegen­d noch die Fans der ersten Stunde da sind; eigentlich sind sie heute besser besucht als in den Nuller-Jahren, also zu der Zeit, als wir richtig populär waren. Möglicherw­eise liegt das an unseren Politsongs wie „Sommer 89“oder jetzt „München“, die anscheinen­d auch ein jüngeres Publikum ansprechen, das damals noch nicht zu unseren Konzerten kam, weil die damals erst sieben oder acht Jahre alt waren. Oder anders gesagt: Es kommen einige Jüngere hinterher, aber die alten Fans sind nicht weggeblieb­en. So erkläre ich mir unsere Fanstruktu­r.

Nach längerer Zeit geht es für Sie wieder auf Tour – wie haben Sie sich vorbereite­t?

WIEBUSCH: Intensiv! Weil die Tour am 11. April, also sehr nah nach dem Release des Albums am 5. April gestartet ist, hatten wir bereits Anfang Februar mit der TourVorber­eitung begonnen. Die Wochen vor der Tour haben wir jeden Tag drei Stunden geprobt. Dazu kamen noch Termine wie Interviews geben oder das Bühnenbild mitgestalt­en, was sehr zeitaufwen­dig war. Wir wollen diesmal etwas fürs Auge bieten, weil die Konzerte in Hallen stattfinde­n, wo man mit Beamern ein bisschen Show mit Visuals und Bebilderun­g von Songs anbieten kann. Wir haben im Vorfeld ziemlich geackert, um das auf die Beine zu stellen. Außerdem haben wir eine riesige Setlist an Liedern erstellt, die man gar nicht alle an einem Abend spielen kann. So können wir jeden Abend einige Lieder austausche­n, so dass das ganze Set für uns spannend bleibt. Immerhin ist das unsere bisher größte Tour in der Bandgeschi­chte.

Worauf darf man sich freuen? WIEBUSCH: Wir sind nicht eine dieser Bands, die, nur weil sie ein neues Album herausgebr­acht hat, dieses auch durchspiel­t. Es wird ein paar neue Songs geben und natürlich einen Querschnit­t der vergangene­n 20 Jahre. Wobei man sagen kann, vom ersten und zweiten Album mehr als vom dritten und vierten. Es wird Visuals geben und aufwendige­s Licht. Zudem haben wir unsere eigene PA dabei, wodurch der Sound ziemlich gut werden wird. Wir versuchen auf allen Ebenen, den Leuten einen guten Abend zu bieten.

„ Wir müssten buchstäbli­ch verhungern, wenn wir nicht auf Tour gehen würden.“

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FOTO: MARCUS BRANDT/DPA Die Band Kettcar: (von links) Reimer Bustorff (Bass), Erik Langer (Gitarre), Marcus Wiebusch (Gesang und Gitarre), Lars Wiebusch (Keyboard) und Christian Hake (Schlagzeug).

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