Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
„Wir haben im Vorfeld ziemlich geackert“
Kettcar, eine der größten und wohl bekanntesten deutschen Indie-Rock-Bands, kommt Ende April nach Bielefeld. Nach sechs Jahren Warten können sich die Fans auf das neue Album „Gute Laune ungerecht verteilt“freuen. Wir haben mit Sänger Marcus Wiebusch gespr
Marcus, sieben Jahre ist es her, seit Kettcar das letzte Album veröffentlicht haben, sieben Jahre, in denen sich viel ereignet und verändert hat. Was davon hat euch als Band am meisten berührt? MARCUS WIEBUSCH: Auf der künstlerischen Ebene hat uns Corona überhaupt nicht gut getan. Besonders für mich war das eine bleierne und lähmende Zeit. Was ich nachhaltig übergeordnet feststellen kann – und das thematisieren wir auch auf unserem neuen Album – ist, dass wir als Gesellschaft weltweit von Krise zu Krise stolpern. Das sorgt bei vielen Menschen dafür, dass man sich erschöpft, was für den Einzelnen sehr überfordernd sein kann. Diesen Zeitgeist stelle ich bei mir selber fest und auch in meinem Umfeld. Darauf künstlerisch Antworten zu finden und darauf gleichzeitig trotzdem die Leute mit Impulsen, Hoffnung und auch Entertainment auszustatten, das ist uns als Künstler wichtig.
Auf dem neuen Album sind zwölf verschiedenen Lieder, die zwölf verschiedene Geschichten erzählen. Gibt es einen roten Faden? WIEBUSCH: Wenn es einen gibt, dann den, dass wir versuchen, einen empathischen und hoffnungsvollen Blick selbst in unseren düsteren Songs wie „München“klar zu kriegen und zu zeigen, dass nicht alles verloren ist. Wir wollen auf keinen Fall als die Politi-Erkläronkels gelten. Deswegen schreiben wir nicht nur über politische Sachen, sondern auch Liebeslieder oder Songs, in denen es beispielsweise um Elternschaft geht. Zusammengefasst wäre die übergeordnete Klammer Empathie und Hoffnung. Ich hoffe und wünsche mir, dass das auch so wahrgenommen wird.
Sie hatten es eben bereits erwähnt: Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit verändert sich gerade das politische und gesellschaftliche Gefüge, es wird Angst vorm Krieg geschürt oder vor der Inflation. Viele Menschen stehen dem ohnmächtig gegenüber – könnt ihr dieser Ohnmacht als Band/als Künstler mit „guter Laune“etwas entgegensetzen?
WIEBUSCH: Gute Laune würde ich das nicht nennen. Wir haben genauso schlechte Laune wie alle anderen im Angesicht des Nahostkonflikts oder des Unkrainekrieges – aber mehr, als dass wir künstlerisch auf diese Zeit reagieren, können wir nicht tun. Die andere Option wäre ein gepflegter Eskapismus, indem man Songs schreibt, die überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was weltweit gerade passiert. Das ist für uns aber keine Option. Von daher ist das, was wir versuchen, künstlerisch hinzukriegen, der einzig gangbare Weg: Das man mit dem Irrsinn der Zeit halbwegs zurecht kommt.
Das Album trägt den Titel „Gute Laune ungerecht verteilt“. Was genau bedeutet diese Aussage? WIEBUSCH: Wir leben in ruppigen Zeiten, wo auch viele Leute aufgrund der unterschiedlichen Zumutungen, denen man unterworfen ist, nicht mehr mitkommen. Und da bleibt es nicht aus, dass die Laune, egal ob gute oder schlechte, ungerecht verteilt ist.
Welche Kraft, welche Macht haben Musik und Worte, um gesellschaftlich oder politisch etwas zu verändern?
WIEBUSCH: Ich glaube nicht, dass Musik das kann! Ich schreibe schon sehr lange politische Texte und habe die Erfahrung gemacht, dass die Gestaltungsmöglichkeiten von Musik, was politische Sachen angeht, sehr begrenzt sind. Aber: Ich weiß auch, dass Musik unglaublich gemeinschaftsstiftend sein kann. Als ich jung war, wurde ich durch Musik politisiert, ich habe mit Gleichgesinnten die gleichen Bands gehört und wir waren beseelt von den Texten und den Ideen, die diese Bands hatten. Dieses Gemeinschaftsgefühl war damals in der Punk-Hardcoreszene, in der ich groß geworden bin, ein wichtiger Faktor, weil man die gleichen Werte teilt und den gleichen Ideen anhängt. Das versuchen wir auch mit unseren Konzerten: Verbindende Momente schaffen, wo ein Gefühl von Gemeinschaft aufkommt. Wenn an einem Abend tausend Menschen zusammenkommen, die alle die gleichen Werten und Ideale teilen, kann man sich gegenseitig vergewissern, dass nicht alles verloren ist. Es ist nicht Nichts, was für uns wiederum ein Grund ist, weiterzumachen, um diese Ideale, Werte und Ideen in den Songs zu transportieren. Dass Musik das kann, finde ich bemerkenswert.
Sie singen konsequent deutsch – was war Ihr Beweggrund, sich für die Muttersprache zu entscheiden?
WIEBUSCH: Bevor ich richtig Gitarre spielen konnte, habe ich schon Texte geschrieben, und zwar auf deutsch. Und wenn ich ganz eitel sprechen darf: Von der ersten Minute an haben mich viele Leute in meinem Umfeld bestärkt, dass das gar nicht so schlecht sei. Dabei ist es dann geblieben, auch, weil es sich immer organisch und richtig angefühlt hat.
Das Musikgeschäft befinden sich seit einigen Jahren massiv im Umbruch: Was hat sich aus Ihrer Sicht verändert, was ist gut, was ist schlechter geworden ist? WIEBUSCH: Schlecht ist, dass wir mit Platten überhaupt kein Geld mehr verdienen. Wir müssten buchstäblich verhungern, wenn wir nicht auf Tour gehen würden. Das Gute ist, dass man durch die Verfügbarkeit bei Spotify und dadurch, dass jeder immer und überall Musik hören kann, die Popularität steigern kann. Früher musste man erst in den Plattenladen gehen und überlegen, ob man die 20 Mark für ein Album bezahlen möchte. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum unsere Konzerte nach wie vor wie von Zauberhand gut gefüllt sind. Trotzdem wünschte ich mir, dass es eine gerechtere Bezahlweise gäbe. Weil man nur mit Spotify als Künstler nicht überleben kann.
Wie sieht’s bei Kettcar mit dem Fannachwuchs aus?
WIEBUSCH: Wir haben das Glück, dass auf unseren Konzerten überwiegend noch die Fans der ersten Stunde da sind; eigentlich sind sie heute besser besucht als in den Nuller-Jahren, also zu der Zeit, als wir richtig populär waren. Möglicherweise liegt das an unseren Politsongs wie „Sommer 89“oder jetzt „München“, die anscheinend auch ein jüngeres Publikum ansprechen, das damals noch nicht zu unseren Konzerten kam, weil die damals erst sieben oder acht Jahre alt waren. Oder anders gesagt: Es kommen einige Jüngere hinterher, aber die alten Fans sind nicht weggeblieben. So erkläre ich mir unsere Fanstruktur.
Nach längerer Zeit geht es für Sie wieder auf Tour – wie haben Sie sich vorbereitet?
WIEBUSCH: Intensiv! Weil die Tour am 11. April, also sehr nah nach dem Release des Albums am 5. April gestartet ist, hatten wir bereits Anfang Februar mit der TourVorbereitung begonnen. Die Wochen vor der Tour haben wir jeden Tag drei Stunden geprobt. Dazu kamen noch Termine wie Interviews geben oder das Bühnenbild mitgestalten, was sehr zeitaufwendig war. Wir wollen diesmal etwas fürs Auge bieten, weil die Konzerte in Hallen stattfinden, wo man mit Beamern ein bisschen Show mit Visuals und Bebilderung von Songs anbieten kann. Wir haben im Vorfeld ziemlich geackert, um das auf die Beine zu stellen. Außerdem haben wir eine riesige Setlist an Liedern erstellt, die man gar nicht alle an einem Abend spielen kann. So können wir jeden Abend einige Lieder austauschen, so dass das ganze Set für uns spannend bleibt. Immerhin ist das unsere bisher größte Tour in der Bandgeschichte.
Worauf darf man sich freuen? WIEBUSCH: Wir sind nicht eine dieser Bands, die, nur weil sie ein neues Album herausgebracht hat, dieses auch durchspielt. Es wird ein paar neue Songs geben und natürlich einen Querschnitt der vergangenen 20 Jahre. Wobei man sagen kann, vom ersten und zweiten Album mehr als vom dritten und vierten. Es wird Visuals geben und aufwendiges Licht. Zudem haben wir unsere eigene PA dabei, wodurch der Sound ziemlich gut werden wird. Wir versuchen auf allen Ebenen, den Leuten einen guten Abend zu bieten.
„ Wir müssten buchstäblich verhungern, wenn wir nicht auf Tour gehen würden.“