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Leverkusen will endlich mal Erster sein
Die Bayer-Mannschaft kann am Wochenende erstmals deutscher Fußball-Meister werden. Der Verein, lange als „Vizekusen“verspottet, steht vor seinem größten Triumph. Was bedeutet das für die Industriestadt? Ein Ortsbesuch.
Leverkusen. Vor dem Rathaus in Leverkusen ist meisterliche Hoffnung geflaggt. Die Fahnen des Bundesligisten Bayer 04 wehen leicht im Wind. In der Innenstadt sind auffällig viele Menschen, die das Trikot mit den zwei Löwen, dem Logo des ortsansässigen Pharmakonzerns Bayer tragen, unterwegs.
Leverkusen, fast 170.000 Einwohner: Es gibt wenig, was im Zentrum der unscheinbaren Stadt auffällt. Fußballmetropole Deutschlands? – das fühlt sich irgendwie anders an. Doch die Werkself mit dem Megakonzern Bayer im Rücken hat etwas geschafft, was anderenorts vielleicht größer wirken könnte. Bayer 04 Leverkusen steht vor dem Gewinn der deutschen Meisterschaft. Zum ersten Mal in der Geschichte des Vereins. Elf Saisons in Folge gewann Bayern München den Titel. Und was in letzter Sekunde der vorherigen Spielzeit Borussia Dortmund misslungen ist, schafft nun die Mannschaft von Trainer Xabi Alonso, der von 2014 bis 2017 als Profi für die Münchner im Einsatz war: Die Serie des deutschen Rekordmeisters zu beenden. 16 Punkte Vorsprung sind es sechs Spieltage vor Schluss, es fehlt ein Sieg, um den Fans einen Traum zu erfüllen, der unerreichbar schien. Der wichtigste Titel
In der Taverna Rustica am Konrad-Adenauer-Platz, auf halbem Weg zwischen Rathaus und Stadion, ist einiges los. Chef Hawkar Karim bringt Kölsch, Schnäpse und Pommes gefüllte Teller auf die Terrasse. Der 1. Fan Club 1976 Bayer Leverkusen trifft sich dort wie vor jedem Heimspiel. Alonsos Team empfängt im Viertelfinal-Hinspiel der Europa League den englischen Gegner West Ham United. „Ganz ehrlich: ein europäischer Titel wäre schön. Auch der Pokalsieg“, sagt Reinhard Theobald, „aber nichts, wirklich nichts geht über das Gefühl, endlich Meister zu werden.“Der 66-Jährige trägt Lederweste, Mütze, Schal und Trikot seines Klubs. Theo, so nennen ihn alle, steht dem ältesten Fanclub des Vereins vor, er ist Mitglied seit der Gründung. Wenn Theo etwas sagt, stimmen um ihn herum alle mit einem Kopfnicken zu.
Dass Leverkusen am Sonntag mit einem Sieg gegen Bremen vor heimischer Kulisse den Gewinn der Meisterschaft perfekt machen kann, bringt al
le in der Taverna Rustica ins Schwärmen. Euphorie ist spürbar – ein Gefühl, das man in Leverkusen lange nicht kannte.
Der ewige Zweite
Gerade weil der Leidensweg in den vergangenen Jahren so bitter war. „Vizekusen“, der ewige Zweite – diesen Namen trägt man hier seit Langem. Wenn etwas im deutschen Profifußball sinnbildlich für das Scheitern unmittelbar vor dem Titelgewinn steht, dann Leverkusen im Sommer 2000. Damals hätte am letzten Spieltag ein Unentschieden beim Aufsteiger SpVgg Unterhaching gereicht, um vor dem FC Bayern erstmals Meister zu werden. Doch der Triumph blieb aus. Das Spiel ging 0:2 verloren. Sogar dreifach misslang ein Titel-Versuch 2002. In der Bundesliga reichten fünf Punkte Vorsprung auf Dortmund drei Spieltage vor Schluss nicht aus. Im Pokalfinale setzte es ein 2:4 gegen Schalke 04. Und im
Endspiel der Champions League, in dem Bayer nur Underdog war, gewann Real Madrid mit 2:1. „Vizekusen“eben.
Der Mutterkonzern Bayer ließ den Begriff „Vizekusen“als Markenzeichen bis ins Jahr 2030 schützen. Rudi Völler, Vereinslegende als Spieler und Manager, hat daran weniger Gefallen gefunden. „Der Begriff ist mir ein bisschen auf den Keks gegangen“, sagte der heutige DFB-Sportdirektor
jüngst. Dass ausgerechnet der Dauerzweite den Dauermeister der vergangenen elf Jahre knackt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Zufall ist es jedoch nicht.
Als Xabi Alonso von der Vereinsführung um Sportdirektor Simon Rolfes im Herbst 2022 geholt wurde, war das Staunen groß. Der 42 Jahre alte Spanier war als Mittelfeldspieler ein Meister seines Fachs, wurde zweimal Europa- und ein
mal Weltmeister, holte zwei Champions-League-Titel. Als Trainer aber galt er bis dato als unbeschriebenes Blatt.
Seit Amtsantritt entwickelte er ein titelträchtiges Konstrukt – mit dem nötigen Geld für Investitionen. Alonso, der charismatische Baske, weckte den Glauben, das Unmögliche doch möglich zu machen. Dabei ruft das bevorstehende Meisterstück der „Pillendreher“, wie die Leverkusener despektierlich genannt werden, auch Kritik hervor.
Dass in Deutschland die Mitglieder die wichtigste Stimme im Verein sind, und nicht das Kapital entscheidet, ist in der 50+1-Regel festgeschrieben. Wegen ihrer Konzernzugehörigkeiten gilt diese nicht für Leverkusen und den VfL Wolfsburg. Das Fan-Bündnis „Unsere Kurve“schrieb: „Daher wird im Falle der Meisterschaft für neutrale Fans sicherlich ein ‚Geschmäckle‘ bleiben.“ Am Ziel aller Träume
Leverkusens Tradition reicht aber dennoch bis in die Tiefen des Amateurfußballs zurück. „Ich war schon dabei, da haben wir in der Verbandsliga gegen Solingen gespielt“, erinnert sich Reinhard Theobald. Sein Cousin Gerd Wölwer, der den 1. Fan-Club 1976 gegründet hat, will die Kritik ebenso nicht gelten lassen: „Wir haben alles erlebt, unterstützen den Verein lange. Bald sind wir am Ziel aller Fan-Träume.“
In der Vereinshistorie gab es nie die Meisterschale, aber schon zwei Titel. 1988 gewann Leverkusen den UefaCup und 1993 den Pokal. Im Clubhaus der Lev-Szene ’ 86, ebenfalls am Konrad-Adenauer-Platz, sind die Erfolge nicht zu übersehen. Seit 2010 ist hier ein inoffizielles Vereinsmuseum entstanden. Marco Giese präsentiert stolz, was an den Decken und Wänden hängt. Die Erinnerungsstücke sind eingerahmt: Dutzende Trikots, die von den Spielern getragen wurden, einige unterschrieben. Vom Shirt des Kapitäns Hans Werner Marx von 74/75, als Leverkusen von der Verbandsliga in die 2. Bundesliga aufgestiegen ist, bis zu den Jerseys des BundesligaAufstieges 78/79 und den Titel-Helden von Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre wie Wolfgang Rolff und Ulf Kirsten. „Das haben wir alles nach und nach mit viel Mühe und dank eines großen Netzwerks angeschafft“, sagt Giese, der als Gesicht der Lev-Szene ’86 mit seinen 24 Mitgliedern gilt. Keine Frage – in der Sammlung steckt Herzblut. „Wenn der Bayer den Titel holt“, so Giese, „dann haben wir einen echten Sehnsuchtsort geschaffen.“Redet er über seinen Kub, dann immer nur als „der Bayer“.
An der Wand hängen auch die elf Trikots der aktuellen Startelf. „Die sind nicht gewaschen und riechen unverfälscht“, scherzt Giese. Er zeigt auf das Shirt von Mittelfeldspieler Florian Wirtz, der auch in der Nationalelf als große Hoffnung für die Zukunft gilt. „In diesem Trikot hat er das Tor des Jahres 2023 gegen Freiburg geschossen.“Das Shirt von Trainer Alonso darf nicht fehlen an jener besonderen Wand, die nun zur Meisterwand werden kann. „Unter ihm ist eine Eigendynamik entstanden, die das möglich gemacht hat“, beschreibt Marco Giese als langjähriger treuer Leverkusen-Fan die Gefühlslage. „Xabi Alonso hat den Verein verändert, er hat eigentlich die ganze Stadt verändert.“