Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West
„Ukraine braucht weitreichende Waffen“
Die Grünen sind eine friedensorientierte Partei – und unterstützen Waffenlieferungen an die Ukraine. Ist das ein Widerspruch? Fraktionschefin Britta Haßelmann bezieht Stellung und gibt Einblicke in das Innenleben der Partei.
Frau Haßelmann, wie reagieren Sie, wenn Friedensinitiativen Ihrer Partei imzuge der Ukraine-waffenlieferungen einen „Kriegskurs“oder „Kriegsrhetorik“vorwerfen? Britta Haßelmann:
Ich weise das zurück. Der Kriegstreiber sitzt in Moskau und heißt Wladimir Putin. Er führt einen völkerrechtswidrigen, brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine mit furchtbarem Leid und Zerstörung für die Menschen. Putin kann diesen Krieg sofort beenden. Das tut er aber nicht. Die Ukraine hat jedes Recht, sich selbst zu verteidigen. Und braucht unsere Unterstützung. Denn sie verteidigt auch unsere Freiheit, unsere Sicherheit, unsere Demokratie und Werte in Europa.
Wie ist die Stimmung in Ihrer Partei? Gibt es viele Kritiker in Ihren Reihen, die sich nur schwer mit Waffenlieferungen anfreunden können? Oder überwiegen die Mitglieder, die für Waffenlieferungen sind?
Die Verteidigung von Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie gehören zu unserem Kern seit unserer Gründung. Wir sind eine pro-europäische Partei. Unsere Haltung und Entscheidungen, die Ukraine humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen zu unterstützen, finden breite Unterstützung. Selbstverständlich werden die Krisen, Konflikte und Kriege dieser Welt mit großer Sorge und vielen Fragen debattiert. Aber an der Basis ist sehr großer Zuspruch spürbar. Wir wissen, wofür die Ukraine kämpft.
Wie schwer fällt es Ihnen, als Teil der Bundesregierung künftig wieder viel mehr Geld für Waffen und Rüstung bereitzustellen als für Maßnahmen in den Sozialstaat und Klimaschutz?
Klar ist: Wir haben eine veränderte Sicherheitslage in Deutschland, Europa und der Welt. Es geht längstnicht mehr nur um die Freiheit und Sicherheit der Ukraine, sondern um unser aller Freiheit und Sicherheit in Europa. Diese Sicherheit zu gewährleisten, hat einen Preis. Aber wir dürfen nicht das Eine gegen das Andere ausspielen. Rüstung oder Rente, das wird es mit uns nicht geben. Wir haben die große
Herausforderung, Wohlstand zu sichern, die Transformation der Wirtschaft, Klimaschutz und den Ausbau der Erneuerbaren voranzutreiben, in Sicherheit und Zukunft zu investieren und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Deutschland hat in den Jahren unionsgeführter Regierung seine Zukunftsvorsorge extrem vernachlässigt, massive Investitionsbedarfe sind die Folge. Allein durch Einsparungen im Bundeshaushalt ist das nicht zu erreichen. Wir brauchen Investitionen in die Zukunft. Deshalb müssen wir auch über andere Möglichkeiten und Instrumente und eine Modernisierung der Schuldenbremse reden.
Wie lange werden Sie sich für Waffenlieferungen in die Ukraine einsetzen? Gibt es Grenzen?
Seit zehn Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Seit zwei Jahren befindet sich das gesamte Land in einem Abwehrkampf. Wie viel Zerstörung und Tod dieser brutale, sinnlose, völkerrechtswidrige
Angriffskrieg fordert, sehenwir jeden Tag. Ich kenne niemanden, der sich nicht sehnlichst Frieden wünscht, allen voran die Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber die Ukraine muss ihren Verteidigungskampf gewinnen. Putin kann den Krieg sofort beenden. An ihn sollten sich Friedensappelle richten. Solange er das nicht tut, muss die Ukraine weiter unterstützt werden. Der Kampf für Frieden in einer freien, demokratischen Ukraine ist auch ein Kampf für Frieden in Europa. Deswegen braucht die Ukraine mehr Unterstützung. Wichtig ist, dass wir weiter geschlossen und entschieden gemeinsamhandelnineuropaundmit unseren Bündnispartnern – und mit Munition, aber auch mit weitreichenden Waffensystemen helfen.
Sind die Grünen noch immer eine pazifistische Partei?
Wir sind eine an Frieden, Freiheit, Solidarität, Gewaltfreiheit, Menschenrechten und globaler Gerechtigkeit orientierte Partei. Nicht das Recht des Stärkeren darf sich durch
setzen, sondern die Stärke des Rechts in den internationalen Beziehungen.
Wiekanninihrenaugenfrieden in der Ukraine entstehen? Was ist dafür konkret nötig?
Einen einseitigen Diktatfrieden von Putins Russland darf es nicht geben. Russland muss die territoriale Integrität der Ukraine akzeptieren. Derzeit ist nicht erkennbar, dass Putin dazu bereit ist.
Eine Frage zu einem weiteren Krieg: Wie beurteilen Sie den Kurs Israels gegenüber der Zivilbevölkerung in Palästina?
Für Deutschland ist die Sicherheit Israels nicht verhandelbar. Der brutale Angriff der terroristischen Hamas vom 7. Oktober 2023 markiert eine Zäsur in der Geschichte des Staates Israels. Israel hat jedes Recht, sich gegen den Vernichtungsterror zu verteidigen. Dieser Terror der Hamas hat unsägliches Leid über die Menschen in Israel und Jüdinnen und Juden in der Welt gebracht. Seit Monaten warten und bangen Angehörige um die über 100 Geiseln, die sich immer noch in der Gewalt der Hamas befinden. Das bedeutet unendliches Leid. Gleichzeitig ist die Lage für die Zivilbevölkerung in Gaza katastrophal. Die Zahl der getöteten und verwundeten Menschen dort hat in kurzer Zeit historische Dimension erreicht. Mehr als eine Million Kinder, Frauen und Männer sind von Hunger bedroht. Das immense Leid der Menschen muss dringend gelindert werden. Die israelische Regierung muss umgehend sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe ermöglichen und Völkerrecht achten. Es braucht eine Verständigung auf einen humanitären Waffenstillstand, damit nicht noch mehr Menschen sterben, die Geiseln endlich freikommen undmehrhumanitäre Hilfe die Menschen in Gaza erreicht. Eine Zwei-staaten-lösung bleibt die Perspektive.
Das Gespräch führte Ingo Kalischek