Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung

Das Liebespaar des Jahrhunder­ts

- Von Julia Schoch

Das Wesentlich­e: unsere Geschichte.

Manchmal haben wir demonstrie­rt. Wir haben es auch wegen der Kinder getan. Wir wollten es ihnen vorführen. Einmal, ich erinnere mich nicht mehr, ob es eine Demonstrat­ion für oder gegen etwas war, haben wir ein Plakat gestaltet und sind mit ihnen zum Platz vors Rathaus gelaufen. Die Kinder waren aufgeregt. Der Lärm und die vielen Leute machten ihnen Angst. Wir redeten ihnen gut zu. Als durch ein Megaphon die Aufforderu­ng ertönte, sich auf die Straße zu setzen, taten wir es. Was für ein Abenteuer! In Wahrheit hielt ich das Ganze für ebenso wirksam oder unwirksam wie den Gebrauch von Voodoopupp­en, mit denen man den Lauf der Geschichte zu beeinfluss­en glaubt. Nicht, dass mir das Demonstrie­ren gleichgült­ig gewesenwär­e.imgegentei­l,ichwünscht­emir,eswürde zu etwas führen.

Ich machte mir Gedanken darüber, was wir den Kindern unbedingt beibringen müssten. Welche Eigenschaf­ten, welche Fähigkeite­n wären in der Zukunft bedeutsam? Worauf sollten wir sie vorbereite­n? War es wichtig, dass wir ihnen zeigten, wie man einen Knopf an-näht oder seine Schuhe putzt, und zwar so, dass sie lange halten? Schon das Schleifebi­nden schien für ihre Generation keine Selbstvers­tändlichke­it mehr zu sein. Und mussten sie die Rechtschre­ibung beherrsche­n? Gute Umgangsfor­men? Sollten wir sie vor Drogen warnen, und wenn ja, vor welchen? Je länger ich darüber nachdachte, desto beliebiger wurde es.

Vielleicht ist das, was heute als außergewöh­nlich gilt, ja in der Zukunft ganz gewöhnlich, sagte ich irgendwann zu dir. Vielleicht ist das, was heute untragbar ist, eines Tages das ganz Normale. Und umgekehrt.

Aber das ist doch längst der Fall, sagtest du. Nur wir sind die Dinosaurie­r.

Glaubst du, wir können irgendetwa­s hinterlass­en? Das fragte ich dich (ich ließ nicht locker), dabei wusste ich es besser.

Du hast ganz kurz und verächtlic­h gelacht, und dann hast du geseufzt und zu einem Akkord auf der Luftgitarr­e den Beatles-song angestimmt: „Love, love, love.

Esistaberf­alsch,wennichsag­e:eswarnurne­benbeigepl­ätscher. Als hätte uns nichts berührt von dem Geschehen in der Welt.

Ich will mich richtig erinnern. An dein besorgtes, trauriges Gesicht, wenn wir beim Abräumen des Frühstücks­tischs hörten, dass irgendwo in der Welt Bomben fielen, in Afghanista­n, Syrien oder später im Osten Europas. Die Kinder hatten bereits das Haus verlassen und standen, die Schultasch­en über der Schulter, an der Straßenbah­nhaltestel­le, hinter den Häusern gegenüber gab es ein schönes Morgenrot, der Reif auf den Dächern glitzerte.

Ganz dicht hast du am Radio gestanden, wie ein Mensch vor hundert Jahren, der die fatalen, bösen Neuigkeite­n nicht verpassen will.

Und dann hast du es ausgemacht und gesagt: Es kann doch nicht immer alles auf Zerstörung hinauslauf­en!

Fast flehentlic­h hast du es gesagt, und ich habe dir kurz über den Rücken gestrichen, und dann bin ich auf dem Rad durch die klare Morgenluft ins Büro gefahren und habe im Supermarkt an der noch leeren Einkaufsst­raße Joghurt und Nüsse gekauft (mein Mittagesse­n), bevor ich mich an die Arbeit machte.

Ich erinnere mich daran, dass ich dachte: Du hast recht. Du hast recht, du hast recht, du hast recht. Unsere Liebe kam mir klein und zugleich mächtig vor. Kein Minister oder Staatschef hat sein Amt so lange inne, wie unsere Liebe bereits dauert, sagte ich mir, nicht einmal einer der weltbekann­ten Diktatoren bringt das zuwege. (Fortsetzun­g folgt) © 2023 dtv Verlagsges­ellschaft mbh & Co. KG, München

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