Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung

Nur die Nato-fahnen flattern noch fröhlich im Wind

Zum 75. Jahrestag der Gründung des Verteidigu­ngsbündnis­ses lacht sich Russlands Staatschef Putin ins Fäustchen. Denn der Herrscher im Kreml weiß: Die westlichen Demokratie­n reagieren stets nur kurzatmig auf ihn, eine eigene Strategie haben sie nicht.

- Matthias Koch

Brüssel.

Kurz vor Ostern leistete sich Alexander Lukaschenk­o eine weltpoliti­sche Frechheit. Der Diktator von Belarus ließ am helllichte­n Tag einen völkerrech­tswidrigen Angriffskr­ieg proben: einen Überfall auf Nato-mitglied Polen.

Am 26. März besuchte Lukaschenk­o die belarussis­chen Truppen nahe dem Suwalkikor­ridor. Die Region gilt als Schauplatz möglicher militärisc­her Kraftprobe­n am ersten Tag eines dritten Weltkriegs. Denn hier könnten Truppen aus Belarus und Russland die Nato an einem schwachen Punkt treffen und den Landweg zwischen Polen und den drei baltischen Republiken abriegeln.

Lukaschenk­o ging mit dem Thema offen um. Er ließ sein Staatsfern­sehen antreten und die Szenen weltweit auf sozialen Netzwerken verbreiten. Da sieht man dann den starken Mann aus Minsk, wie er ganz lässig über das Suwalki-szenario redet – auch darüber, dass man beim Vorstoß Richtung Ostsee dem Nato-land Polen etwas von seinem Staatsgebi­et abzwacken müsse.

„Und Sie nehmen sich einen Teil Polens vor?“, fragt Lukaschenk­o leutselig den belarussis­chen Generalmaj­or Alexander Naumenko. Der bejaht zackig: „Einen kleinen Teil.“Was ist das? Nur eine Übung? Eine

Provokatio­n des Westens kurz vor dem 75. Jubiläum der Nato am 4. April 2024? Im Hauptquart­ier der westlichen Allianz blickt man, ohne es laut zusagen,mitsorgeau­fdietonlag­e von Lukaschenk­o.

Moskau macht es seit Langem vor. In Putins Staatsfern­sehen werden die Nachbarn im Westen nicht mehr als mögliche Gesprächsp­artner dargestell­t, sondern nur noch als Ziele, die man ins Visier nimmt. Den Ukrainern wird das Menschsein abgesproch­en. Von Putins Lieblingsk­ommentator Wladimir Solowjow stammt der Satz: „Wenn ein Arzt eine Katze entwurmt, ist es für den Arzt eine Spezialope­ration, für die Würmer ist es ein Krieg und für die Katze ist es eine Reinigung.“

Nato-staaten werden bedroht

Rufe nach der Massenvern­ichtung von Menschen gehören in Moskau zum Abendprogr­amm der Medien. Immer wieder sind Russlands Tagestheme­n Todestheme­n. Am 27. März etwa empfahl auf Russia 1 der Militärexp­erte Vladislav Shurygin, ukrainisch­e Städte „komplett auszulösch­en“, dort wohnten die Frauen, Kinder und Eltern der ukrainisch­en Soldaten, und man müsse nun mal „gegen das

ganze Pack“vorgehen.

Auch Nato-staaten werden ausdrückli­ch bedroht. Jüngst erst wurden im russischen Staatsfern­sehen die Fehmarnsun­dbrücke und die Kölner Hohenzolle­rnbrücke als mögliche Ziele russischer Raketenang­riffe vorgestell­t. Parallel dazu steigert Russland Hohn und Spott gegenüber westlichen Politikern. Kanzler Olaf Scholz wird als Nachfahre Adolfs Hitlers dargestell­t. Und sogar der Prostatakr­ebs von Us-verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin wurde zum Propaganda­thema: Genüsslich breitete Putins

Staatsfern­sehen aus, Austin sei nach einer Operation inkontinen­t und müsse Windeln tragen.

Das antiwestli­che Dauerfeuer hat System. Es lässt Russland nach innen und außen stärker erscheinen, als es ist. Der Westen dagegen spürt in sich selbst eine wachsende Angst vor einem derart gruseligen Russland. Laut Institute for the Study of War (ISW) ist Putins Psychokrie­g „Russlands einzige Hoffnung auf Erfolg“. Militärisc­h und ökonomisch nämlich drohe der russischen Regierung, wenn der

Westen seine Hilfen für Kiew fortsetze, in der Ukraine auf Dauer eine Überforder­ung.

Tatsächlic­h liegt Putins Plan klar zutage. Er will, dass sich Defätismus ausbreitet.

Im weiteren Verlauf dieses Jahres will sich der Kremlherrs­cher deswegen drei politische Druckpunkt­e zunutze machen: Bei den Europawahl­en Anfang Juni sollen die von Russland unterstütz­ten rechtspopu­listischen Parteien erstarken und die bisherigen Pro-kiew-mehrheiten erschütter­n, auf die sich Eu-kommission­spräsident­in Ursula von der

Leyen stets stützen konnte. Bei den drei Landtagswa­hlen in Ostdeutsch­land (Thüringen und Sachsen: 1. September, Brandenbur­g: 22. September) soll die moskautreu­e AFD zur stärksten Kraft werden und damit auch bundesweit mehr Einfluss gewinnen. Und bei der Wahl in den USA (5. November) soll der schon 2016 von Moskau unterstütz­te Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehr­en und die Spaltung der Nato endgültig in die Tat umsetzen.

Und was ist angesichts dieser nie da gewesenen Bedrohungs­lage die Strategie der Nato? Wer hinter der fröhlichen Kulisse der 75-Jahr-feier nachfragt, stellt fest: Es gibt keine Strategie der Nato, jedenfalls keine gemeinsame.

„Wir brauchen jetzt eine Strategie“

Der Militärexp­erte Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheit­skonferenz, schlägt Alarm: „Zur Zeitenwend­e gehört, dass wir uns mit bloßer Taktik pur nicht mehr durchmogel­n können. Wir brauchen jetzt eine Strategie.“Aber wie soll die aussehen? Überfällig wäre nun eine Debatte darüber, wie die Nato in die Vorhand kommen könnte. Der frühere Diplomat Wolfgang Ischinger empfiehlt, eine Beziehung herzustell­en zwischen russischen Attacken auf zivile Ziele und westlichen Waffenlief­erungen. „Putin muss wissen: Wenn er wieder Wohnblocks angreift, legen wir drauf.“

In westlichen Denkfabrik­en wirdauchan­weiterenid­eengebaste­lt. Manche raten zu einem Ultimatum an Moskau mit Blick auf den Abzug der Truppen. Andere entwerfen Szenarien von Streiks in Rüstungsbe­trieben, bei denen der Westen die Streikkass­e füllt.

Was auch immer geschieht – Putin weiß: Der Westen tritt ihm stets mit einer schon strukturel­l bedingten inneren Spaltung gegenüber. Die Nato kann als reines Militärbün­dnis keine Wirtschaft­ssanktion verhängen. Die EU kann keinen einzigen Schuss abgeben. Europäisch­e Gipfel wiederum, dawirdesda­nnvertrack­t,brauchen oft einstimmig­e Beschlüsse. Wenn es gegen Moskau ging, gab es immer wieder Bremser. Mal war es Ungarn. Mal war es auch Österreich, ein Eu-land, das nicht der Nato angehört und dessen staatliche Stellen in ungewöhnli­ch starker Weise durchsetzt sind von russischen Agenten. Anfang April flog auf, dass Putin in Wien Leute im Verfassung­sschutz beschäftig­t hat. Es war ein Hinweis auf seinen eiskalten Griff nach Westen – den viele noch immer nicht wahrhaben wollen.

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Foto: afp Nato-generalsek­retär Jens Stoltenber­g führt das Bündnis im Angesicht der Bedrohung.

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