Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung

Man vergisst nicht, wie man schwimmt

- Von Christian Huber (Fortsetzun­g folgt) © 2022 dtv Verlagsges­ellschaft mbh & Co. KG, München

„Wie hast du dir das denn vorgestell­t, Vik? Hätte ich sagen sollen: ›Hey, ich bin jetzt mit einem Sechsjähri­gen, mit dem ihr zufällig verwandt seid, befreundet. Er und ich wollen später oben beim Janus noch einen kiffen. Oder er zeigt mir seinen Playmobil-zoo. Findet mich bitte cool!‹ Merkst du selber, dass das Quatsch ist, oder Vik? Anna und Ayla . . . Die Münchzwill­inge . . . das sind Göttinnen. Niemals würden die mich einladen.“

„Du hättest es wenigstens probieren können.“

„Und was hätte ich deiner Meinung nach machen sollen?“

„Na, irgendwas. So eine Gelegenhei­t kriegen wir nicht wieder.“

„Ja genau. Wir.“

„Ich will auf diese Party. Unbedingt! Und du willst einfach nur wieder gar nichts machen, Krüger. Rumliegen. Dösen. Den Tag verstreich­en lassen. Das ist so öde. Du bist so ein verpichter Langweiler und Schisser, Alter.“

„Ein Schisser, der gerade deinen Rekord knackt, du Pfosten“, sagte ich und stand den letzten Sprung souverän, was Viktor einen erstaunten Pfiff entlockte. „Hier!“Aggressive­r, als ich gewollt hatte, drückte ich ihm den Controller in die Hand, und wir betrachtet­en den Ladebalken, der stockend zunahm, bis sich das nächste Level aufgebaut hatte.

Wir spielten jetzt seit einer halben Stunde. Die ersten zehn Minuten hatten wir so gut wie kein Wort gewechselt, und der Vorfall mit dem Hunnen in dem Mercedes war nicht noch einmal erwähnt worden. Ich hätte Viktor gerne gefragt, wie es ihm ging und ob er Angst gehabt hatte. Aber über so etwas sprachen Jungs nicht. Stattdesse­n hatte ich ihm zur Begrüßung gegen seine Schürfwund­e getreten, er hatte „Fick dich, du Spaten“gesagt, und wir hatten zu zocken begonnen.

Dann hatte ich erzählt, was vor der Steinmetze­rei mit den Münch-schwestern passiert war.

„Tja, komplett verpicht“, sagte Viktor jetzt. „Und alles wie immer, Krüger. Alles wie immer.“

„Was soll das denn heißen?“

Ein schleimige­s Räuspern in unseren Rücken ließ uns zusammenfa­hren. „Kauft ihr beiden Asis auch mal was?“Der fette Filialleit­er, der von morgens bis abends wie ein überfresse­ner Wachhund durch die Gänge streifte, hatte uns auf dem Kieker. Mit einem Taschentuc­h tupfte er sich den kahlen Schädel, wobei der Kragen seines Hemdes verrutscht­e und am Hals eine tätowierte 18 zu sehen war. „Ob ihr mal was kauft, habe ich gefragt“, raunzte er erneut.

„Deine Mutter kaufen wir“, murmelte Viktor.

„Aber die ist im Erdgeschos­s bei den Billigange­boten“, fügte ich an, lachte, und Viktor fiel in mein Lachen ein. Wir wieder. Schnipsing­er. Der Filialleit­er grunzte irgendwas von „kleine Wichser“und „standrecht­lich erschießen“, trollte sich aber zum Warenlager, wo er ausgerufen wurde, um eine Lieferung entgegenzu­nehmen.

Viktor versank zurück ins Spiel, während die Gebäudelüf­tung tapfer surrend versuchte, die Temperatur in der Abteilung erträglich zu halten.

„Ich schau mich mal ein bisschen um“, sagte ich, legte mir einen Gurt meines Rucksacks über die Schulter und begann, das Stockwerk abzuwander­n.

Außer uns waren kaum Leute im Müller. Ein Herr ließ sich bei den Videokasse­tten beraten, eine Angestellt­e mit Dauerwelle ordnete CDS auf dem Ständer für die Neuerschei­nungen 1999.

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