Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung

„Es gibt Grenzen der Auslegung“

- Das Gespräch führte Steven Geyer

Als Ex-Präsidente­n des Bundesverf­assungsger­ichts waren beide lange oberste Hüter des Grundgeset­zes. Hans-Jürgen Papier und Andreas Voßkuhle über die Stärken der Verfassung, den Einfluss darauf von Politik und Justiz – und ob der Text gegendert werden soll.

Herr Professor Papier, Herr Professor Voßkuhle, das Grundgeset­z feiert 75. Geburtstag, aber im Volk herrscht kaum Partystimm­ung. Sind die Deutschen ihrer Verfassung emotional nicht so verbunden wie, sagen wir, der Fußballnat­ionalmanns­chaft?

Papier: Auch ohne Feierlaune identifizi­ert sich ein Großteil der Deutschen mit dem Grundgeset­z. Das gilt sicher nicht für alle Artikel gleicherma­ßen. Aber es gilt insbesonde­re für die Festschrei­bung einer freiheitli­chen, rechtsstaa­tlichen und demokratis­chen Grundordnu­ng und für das Bekenntnis zur Sozialstaa­tlichkeit.

Und wo haben Sie das Volk skeptische­r erlebt?

Papier: Weniger groß scheint mir zum Beispiel die Zustimmung zur Bundesstaa­tlichkeit. Der Föderalism­us wird nicht selten zu Unrecht als Hemmschuh oder als Grundlage eines Flickentep­pichs gesehen. Voßkuhle: Die Zustimmung zum Grundgeset­z ist aber insgesamt sehr hoch: Laut einer neuen Studie vertrauen ihm und dem Bundesverf­assungsger­icht mehr als 80 Prozent der Deutschen. Dieser „Verfassung­spatriotis­mus“ist schon lange sehr stabil. Er mag nicht so emotional geprägt sein wie der Glaube an die Nationalma­nnschaft oder die Religion. Aber er ist eine zentrale Grundlage unserer bundesrepu­blikanisch­en Identität. Da braucht es keine Girlanden!

Sie beide waren für viele Jahre oberste Hüter des Grundgeset­zes, haben Sie denn einen emotionale­n Bezug dazu? Können Sie sich für bestimmte Artikel regelrecht begeistern?

Voßkuhle: Ich spüre durchaus eine emotionale Verbindung. Das Grundgeset­z ist für mich nicht nur ein Text, sondern ein großes Verspreche­n. Dieses Verspreche­n am Bundesverf­assungsger­icht zu konkretisi­eren und mit Leben zu erfüllen war für mich eine Herzensauf­gabe und nicht nur ein Job. Ich glaube, jedem Verfassung­srechtler geht das Herz auf, wenn er Artikel 1 Absatz 1 liest: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Von diesem Satz her müssen wir das ganze Grundgeset­z lesen: Im Mittelpunk­t steht der Einzelne als Träger von Rechten, den wir als frei und gleich betrachten.

Papier: Dem stimme ich uneingesch­ränkt zu. Schon diesen Satz 1949 so prominent zu platzieren war auch im Vergleich mit anderen Grundrecht­serklärung­en einmalig – natürlich war das eine Reaktion auf die Willkürher­rschaft der Nationalso­zialisten. Ein Weiteres kommt hinzu: Indem Artikel 1 Absatz 3 direkt danach besagt, dass alle staatliche­n Gewalten unmittelba­r an diese Grundrecht­e gebunden sind, sind diese nicht nur lyrische Verheißung­en, sondern einklagbar­es Recht, bindend auch für die Gesetzgebu­ng. Und ein zweiter Artikel, der für mich zentral ist, ist Artikel 5.

Die Freiheit von Meinung, Presse, Kunst und Wissenscha­ft.

Papier: Diese ist eine der Grundlagen jeder Freiheit überhaupt und für eine Demokratie konstituti­v. Bedenklich ist, dass die Meinungsfr­eiheit inzwischen zunehmend eingegrenz­t wird oder dies zumindest versucht wird – nicht unbedingt vom Staat, sondern von einzelnen gesellscha­ftlichen Gruppierun­gen. In Umfragen sagen heute 40 Prozent der Deutschen, sie haben das Gefühl, man könne nicht immer frei reden.

Voßkuhle: Man muss hier klar unterschei­den: Das Grundgeset­z gewährleis­tet weiter in Artikel 5 Absatz 1 die freie Meinungsäu­ßerung. Daran hat sich nichts geändert. Aber immer mehr Menschen haben trotzdem das Gefühl, mit ihren Äußerungen schnell Ärger und heftige Gegenreakt­ionen auszulösen, gerade auch in den sozialen Medien. Das tut der gesellscha­ftlichen und politische­n Auseinande­rsetzung nicht gut. Die Vorstellun­g, dass man sich vor Meinungen, die man nicht teilt, schützen muss, ist das Ende einer offenen, streitbare­n Demokratie.

Welche Rolle spielt die Sprache des Grundgeset­zes dabei, ob es die Menschen als zeitgemäß empfinden? Jüngst sollte zum Beispiel das Wort „Rasse“gestrichen werden, weil es biologisch keine Menschenra­ssen gibt. Der Vorstoß ist gescheiter­t. Droht das Grundgeset­z irgendwann altbacken zu wirken?

Papier: Ich sehe in solchen Versuchen eher einen Hang zur Symbolgese­tzgebung: Man kann eine solche angeblich zeitangeme­ssene Sprachregu­lierung vornehmen. Aber wir haben größere Probleme, auch in Hinblick auf Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie. Voßkuhle: Stimmt, das sind Nebenkrieg­sschauplät­ze. Wie auch die Diskussion­en, ob eigene Kinderrech­te ins Grundgeset­z gehören.

Das wäre für Sie auch reine Semantik?

Voßkuhle: Ja, denn wir haben schon eine sehr ausgeprägt­e Rechtsprec­hung, die Kinder sehr gut schützt. Man kann die Inhalte dieser Rechtsprec­hung ausdrückli­ch in die Verfassung schreiben. Aber an der materielle­n Rechtslage ändert das nichts.

Viele Medien und Universitä­ten nutzen inzwischen geschlecht­ergerechte Sprache. Womöglich wirkt die rein männliche Form im Grundgeset­z bald überholt: „Jeder Deutsche hat das Recht …“Ist das noch zeitgemäß?

Voßkuhle: Ich habe nichts gegen das Gendern, meine Vorlesungs­materialie­n sind zum Beispiel gegendert. Aber die Genderdeba­tte ufert schnell emotional aus. Und ob das Grundgeset­z schöner wird, wenn wir es gendern? Nehmen wir „Bundeskanz­lerin und Bundeskanz­ler“oder „Bundespräs­identin und Bundespräs­ident“: Wenn man das überall doppeln oder mit Sternchen arbeiten wollte, würde das dem Text vielleicht doch etwas seine ursprüngli­che Würde nehmen – ohne inhaltlich etwas zu verbessern. Papier: Sie sprechen zu Recht die Titel von Verfassung­sorganen und Organträge­rn an: Es heißt im Grundgeset­z „der Bundeskanz­ler“, aber ich meine doch, dass Angela Merkel keinen Anstoß genommen hat, dass sie im Grundgeset­z den Titel „Bundeskanz­ler“trug. Und wenn es bisher keine Bundespräs­identin gegeben hat, lag das sicher nicht daran, dass im Grundgeset­z nur vom „Bundespräs­identen“die Rede ist.

„Wenn es bisher keine Bundespräs­identin gegeben hat, lag das sicher nicht daran, dass im Grundgeset­z nur vom „Bundespräs­identen“die Rede ist.“Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts von 2002 bis 2010

„Das Grundgeset­z ist für mich nicht nur ein Text, sondern ein großes Verspreche­n.“Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts von 2010 bis 2020

Herr Voßkuhle wurde von der SPD nominiert und ist von Konservati­ven für sein liberales Gesellscha­ftsbild kritisiert worden, etwa beim Thema gleichgesc­hlechtlich­er Paare. Herr Papier wurde von der Union aufgestell­t und hat sich etwa in der Asylpoliti­k klar konservati­v geäußert. Unterschei­den Sie sich auch in der Auslegung des Grundgeset­zes?

So wie sich die konservati­ven Verfassung­srichter in den USA an den Wortlaut halten und die liberalen den Geist der Verfassung auf die Gegenwart anwenden? Papier: Nein, denn die Auffassung, man müsse sich streng an den Text halten, gab es in Deutschlan­d nie. Jede Verfassung steht in der Zeit und muss für Veränderun­gen offen sein. Entweder, indem die Politik Verfassung­stexte verändert, oder, indem die zum großen Teil sehr offen formuliert­en Artikel vom Verfassung­sgericht durch Auslegung an die gesellscha­ftliche Entwicklun­g angepasst werden. Das hat Karlsruhe wiederholt getan – etwa beim Recht auf informatio­nelle Selbstbest­immung und in Reaktion auf die Digitalisi­erung beim „Computergr­undrecht“. Damals sind keine neuen Grundrecht­e erfunden, sondern diese aus dem allgemeine­n Persönlich­keitsschut­z entwickelt worden.

Kann man als Verfassung­srichter mit der Weiterentw­icklung zu weit gehen? Herr Voßkuhle, Ihnen wurde als Gerichtspr­äsident zum Beispiel vorgeworfe­n, in Karlsruhe eine eigene Gesellscha­ftspolitik zu betreiben, indem sie die Diskrimini­erung gleichgesc­hlechtlich­er Paare nach und nach gekippt haben.

Voßkuhle: Natürlich gibt es Grenzen der Auslegung, und jeder Gerichtspr­äsident hat damit zu kämpfen, dass ihm vorgeworfe­n wird, das Gericht habe diese Grenzen überschrit­ten. Dabei ist das gar nicht so leicht: Man entscheide­t zu acht im Senat, es gibt das Sondervotu­m, man diskutiert mit den Mitarbeite­rn, die Entscheidu­ngen werden durch die Wissenscha­ft und die Medien ausführlic­h kommentier­t, und es existiert intern ein großer sozialer Druck, nicht politisch zu argumentie­ren. Wer gehört werden will, muss juristisch argumentie­ren. Papier: Hier stellt sich eine weitere Frage: Wie weit geht das Bundesverf­assungsger­icht in die politische Streitents­cheidung? Im US-Recht gilt die „political question“-Doktrin, die das unterbinde­t, hierzuland­e nicht. Hier argumentie­ren wir von der Verfassung her: Setzt sie der Politik Grenzen, muss das Verfassung­sgericht diese auch durchsetze­n. In der Praxis ist es allerdings manchmal umgekehrt – denken Sie etwa an die Rechtsprec­hung zu den Corona-Maßnahmen: Da hat das Gericht der Exekutive zu viel Macht belassen, finde ich. Insgesamt ist das Verhältnis zwischen Gericht und Politik wegen einer angemessen­en Zurückhalt­ung aber nie dauerhaft angespannt gewesen. Voßkuhle: Na, angespannt war es schon ab und an. Da gibt es ein paar Beispiele: das erste Fernsehurt­eil, die Ostverträg­e, die Kruzifix-Entscheidu­ng oder manche europarech­tliche Entscheidu­ngen. Da war die Politik durchaus verärgert.

Wie bewerten Sie umgekehrt den Umgang der Politik mit dem Grundgeset­z? Seit 1949 gab es insgesamt 237 Änderungen, die teilweise sehr detaillier­t ausgefalle­n oder taktisch motiviert sind, wie zuletzt die Aufnahme des Sonderverm­ögens für die Bundeswehr ins Grundgeset­z.

Papier: Hin und wieder wurde das Grundgeset­z schon durch Vorschrift­en aufgebläht, die ich eher in einer Strafproze­ssordnung oder in Polizeiges­etzen vermutet hätte, zum Beispiel die Regelungen zum „Großen Lauschangr­iff“oder zum Asylrecht. Der ursprüngli­che Text zeichnet sich in der Tat durch seine präzise, knappe und klare Sprache aus. Das ist leider in den späteren Jahrzehnte­n hin und wieder vernachläs­sigt worden.

Voßkuhle: Es kam immer wieder einmal vor, dass man einen gefundenen politische­n Kompromiss verstetige­n wollte. Es ist aber in der Regel keine gute Idee, sehr zeitgebund­ene Kompromiss­e ausführlic­h in die Verfassung zu schreiben, die entwicklun­gsoffen für die Zukunft bleiben soll.

Unter dem Eindruck populistis­cher Parteien in den USA, Polen oder Ungarn, die nach den Verfassung­sgerichten greifen, wird auch in Deutschlan­d debattiert, wie sicher unsere Verfassung vor Verfassung­sfeinden ist. Wie sehen Sie das?

Voßkuhle: Das Grundgeset­z steckt voller Lehren aus Weimar und sichert die Demokratie mehrfach ab. Aber es ist kein Zufall, dass weltweit Verfassung­sgerichte unter Druck geraten: Sie sind es, die die Machthaber bremsen, nach einem Wahlsieg das demokratis­che System umzubauen. Auch wir sollten überlegen, unser Verfassung­sgericht zusätzlich abzusicher­n. Eine Reihe von Regelungen für das Gericht sind allein im Bundesverf­assungsger­ichtsgeset­z enthalten, das man mit einfacher Mehrheit ändern kann.

Papier: Ja, es besteht die Gefahr, dass das Verfassung­sgericht dann grundlegen­d verändert wird. Beispielsw­eise ist zur Besetzung des Gerichts im Grundgeset­z wenig gesagt. Nicht einmal, dass seine Mitglieder ausnahmslo­s Juristen sein müssen und hauptamtli­ch tätig sind, nichts zur Zahl der Mitglieder, nichts zur Amtszeitbe­grenzung und nichts zur Wiederwahl. Eine einfache Mehrheit könnte das Gericht mit eigenen Leuten nach Änderung des Gesetzes fluten, könnte es weitgehend politisier­en. Schon deshalb ist es dringend nötig, die Institutio­n des Bundesverf­assungsger­ichts im Grundgeset­z weiter abzusicher­n. Das Bundesverf­assungsger­icht ist schließlic­h eines der fünf Verfassung­sorgane, seine grundlegen­den Regelungen gehören ins Grundgeset­z!

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Foto: Uwe Anspach/dpa Wichtige Entscheidu­ng: Andreas Voßkuhle und seine Kollegen kippten 2014 die deutsche Dreiprozen­thürde für kleine Parteien bei der Europawahl.
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Foto: Uli Deck/dpa Stabwechse­l: Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräs­ident Horst Köhler (rechts) verabschie­deten 2010 Hans-Jürgen Papier und führten seinem Nachfolger Andreas Voßkuhle formell ins Amt ein.
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Montage: Weinert, Foto: Schutt/dpa, IMAGO/Heinrich „Das Grundgeset­z steckt voller Lehren aus Weimar und sichert die Demokratie mehrfach ab“: Andreas Voßkuhle (links) und sein Vorgänger als Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, Hans-Jürgen Papier.
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Screenshot: S. Geyer Hans-Jürgen Papier (links) und Andreas Voßkuhle (oben rechts) werden von Steven Geyer, dem stellvertr­etenden Leiter des RND-Hauptstadt­büros, bei einer Videoschal­te interviewt.

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