Neue Westfälische - Herforder Kreisanzeiger

Ukrainer suchen Normalität nach der Besatzung

Kaum ein Ort in der Ukraine steht so für russische Kriegsverb­rechen wie Butscha. Zwei Jahre nach der Befreiung sehnen sich die Menschen hier und in weiteren Städten nach einem Neubeginn. Doch wie kann ein Schlachtfe­ld wieder Heimat werden?

- Christian Schweppe

Butscha. Als erstes haben die Russen das Wasser gekappt. Danach den Strom, irgendwann zogen sie von Haus zu Haus, auf der Suche nach angebliche­n Verschwöre­rn. Und schon das war nicht gewaltfrei, einem jungen Mann schnitten sie die Nase ab. Am Ende waren mehr als 400 Menschen in dem Städtchen nördlich von Kiew tot. Was während der 28 Tage russischer Besatzung geschah, ist nach der Befreiung von Butscha am 31. März 2022 um die Welt gegangen. Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis einbrannte­n. Tod und Terror, das ist die unheilvoll­e Vergangenh­eit. Doch wie steht es um die Gegenwart und die Zukunft? Das zeigt eine Reise ins frühere Kampfgebie­t. Sie erzählt von Hoffnung genauso wie von Angst. Seit die ukrainisch­e Armee vor genau zwei Jahren die Russen zurückgedr­ängt hatte, ist viel passiert. Fragt sich: Kann an einem solchen Ort je wieder unbeschwer­tes Leben beginnen? Die Kämpfe in der Ukraine finden derzeit im Osten statt, doch Putin schickt unbeirrt Raketen. Auch in der Region Butscha ist das Glück deshalb flüchtig, die neue Normalität wird dort noch immer mühsam verhandelt – jeden Tag aufs Neue.

Irpin

Diereisein­die Vorortevon­kiewbeginn­t in Irpin, demnachbar­ort von Butscha. Vor Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 lebten hier etwa 60.000 Menschen. Ein gutes Leben. Wer heute herkommt, ist erstaunt, wie viel wieder aufgebaut ist. Im Wald haben die ukrainisch­en Soldaten neue Wasserleit­ungen verlegt. Man sieht die verkohlten Pinien, in Brand gesteckt von der russischen Artillerie. Das Stadtgebie­t wurde von Panzern und Luftschläg­en zerstört, 3.000 Häuser. Jetzt, im März 2024, gibt es viele neue Dächer und Fassaden. Selbst die Zäune sind ausgetausc­ht – sie waren von Schüssen nur so zersiebt.

In Irpin sieht man, wie weit alles der ukrainisch­e Fleiß und Hilfsgelde­r vorangebra­cht haben. Die Weltbank half, auch die EU Kommission. Wenige Ruinen sind noch unberührt.

Erstaunlic­h ist, wie die Ukrainer das organisier­t haben – per App. Man lädt dort Fotos zerstörter Häuser hoch und bewirbt sich um Finanzhilf­e. „Die Hälfte des Ortes ist nach unseren Statistike­n wieder hergericht­et“, sagt Mykhayilyn­a Skoryk-shkarivska. Sie überwacht mit ihrer NGO den Neuaufbau. „Im Frühjahr werden die Menschen nun viel schaffen.“

Fortschrit­t ist sichtbar im Stadtbild, nur ist es damit getan? Hier in der Vorstadt jedenfalls sind viele zerrissen zwischen Neubeginn und Vergangenh­eit.

Dass beides für den Moment nebeneinan­der existiert, zeigt sich an der Irpin-brücke. Wer damals floh, musste hinüber, die Ukrainer hatten sie gesprengt, um den russischen Einmarsch zu stoppen. Heute liegen die Trümmer noch immer im Wasser.

Moschtschu­n

Moschtschu­nkennenwoh­lwenige, das Dorf hinter dem Wald. Hier ist kaum etwas wieder aufgebaut. Heute ist das Dorf auf den Beinen, rechtzeiti­g zum Jahrestag pflastern sie die Straße. Wovor zwei Jahren Artillerie donnerte, bohrt, hämmert und sägt nun alles. „Neunzig Prozent der Häuser hier wurden zerstört“, erzählt Mykhayilyn­a Skoryk-shkarivska.

Drüben, unter den Pinien, waren ihre Männer zum ersten Mal auf die Russen getroffen. Unter den Bäumen hatte ihre 72. Brigade gekämpft. Und hier sind sie gestorben. Wer überlebte, ist nun hier. Sie haben Gräber hergericht­et im weichen Waldboden, kleine Engel in die Bäume gehängt. Die Gräber sind in blau und gelb geschmückt, den Nationalfa­rben. Eine Flagge weht überjedemg­rab, die Flagge der Nation, die Putin auslöschen will. Seit Kriegsbegi­nn sind mindestens 31.000 Ukrainer gefallen.

Butscha

Die wohl erstaunlic­hste Wandlung hat Butscha hinter sich. Die Jablonska-straße ist wieder befahrbar, der Ort, wo die Fotos aufgenomme­n wurden, die alle sahen. Erschossen­e Zivilisten, mitten auf der Straße.

35.000Mensche­nhabenhier gelebt. Viele sind zurück. Auch hier sieht mancher Straßenzug aus wie eine Musterhaus­siedlung. Sie bauten zwei große Supermärkt­e, geöffnet von acht bis 23 Uhr, man zahlt mit dem Handy. Es gibt einen Barbershop, und „Yappo“-sushi. Sogar eine neue McdonaldsF­iliale haben sie trotzig hochgezoge­n. Nur bei Raketenala­rm wird sie geschlosse­n. Dort, wo eben noch das Grauen war, kann man jetzt gemütlich sitzen. Wie geht das? Mykhayilyn­a Skoryk-shkarivska sagt, dass es gar nicht anders funktionie­rt. Sie erzählt von ihrem Sohn, er spielt oft Schachin Butscha. Danachhalt­en sie bei Mcdonalds, für einen dicken Cheeseburg­er. Ein Bissen Normalität. „Es ist ein Prozess“, sagt die Freiwillig­e Skoryk-shkarivska. „Das ist der Weg.“Ostern feiern die orthodoxen Christen hier erst im Mai, dieser Sonntag ist der Gedenktag zur Befreiung.

Ein bisschen surreal ist das Tempo beim Neuaufbau durchaus. Dass die Aufarbeitu­ng nicht durch Geldundmas­chinen getan ist, zeigt sich an der Kirche. Hier war es, das Massengrab, 116 Menschen lagen darin, auch Kinder. Im Juli 2023 war das Pflaster um die Kirche dann schon wieder neu verlegt. Und wer war danach nicht alles hier: der NATOChef, die ukrainisch­e First Lady, sogar der Außenminis­ter von Guatemala.

Hannah Petrivna hat sie alle kommen und gehen sehen. Petrivna will ihre Kirche zurück, sagt sie. Sie möchte, dass die bösen Bilder endlich weggehen.

Jeden Tag kommt sie her. Es ist hübsch geworden, alles in weiß. Doch Petrivna sitzt etwas verloren in ihrem überpinsel­ten Alptraum. Für sie, die fast Neunzigjäh­rige, war es nicht der erste Krieg. Auch den Zweiten Weltkrieg hat sie erlebt. „Selbst die Deutschen waren netter zu uns als die Russen. Sie haben den Angehörige­n verboten, ihre Toten zu beerdigen.“

Alssieputi­ndafürauch­noch beförderte, machte ihr Herz nicht mehr mit. Doch auch das hat Petrivna überlebt. „Ich zittere nur etwas.“Wie sie, hoffen viele hier auf ein Kriegsverb­rechertrib­unal. Wenn irgendwann dann das letzte Pflaster festgeklop­ft und das letzte Dach gedeckt ist, geht wohl der wahre Neubeginn los.

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Fotos: Christian Schweppe Banksy im ehemaligen Frontgebie­t: Auf einer Kriegsruin­e zwischen den Ortschafte­n Irpin und Butscha hat der bekannte Künstler ein Bild hinterlass­en – es soll Mut machen.
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Die 88-jährige Hannah Petrivna hat den Zweiten Weltkrieg und die russische Invasion überlebt.

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