Neue Westfälische - Herforder Kreisanzeiger
Ukrainer suchen Normalität nach der Besatzung
Kaum ein Ort in der Ukraine steht so für russische Kriegsverbrechen wie Butscha. Zwei Jahre nach der Befreiung sehnen sich die Menschen hier und in weiteren Städten nach einem Neubeginn. Doch wie kann ein Schlachtfeld wieder Heimat werden?
Butscha. Als erstes haben die Russen das Wasser gekappt. Danach den Strom, irgendwann zogen sie von Haus zu Haus, auf der Suche nach angeblichen Verschwörern. Und schon das war nicht gewaltfrei, einem jungen Mann schnitten sie die Nase ab. Am Ende waren mehr als 400 Menschen in dem Städtchen nördlich von Kiew tot. Was während der 28 Tage russischer Besatzung geschah, ist nach der Befreiung von Butscha am 31. März 2022 um die Welt gegangen. Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis einbrannten. Tod und Terror, das ist die unheilvolle Vergangenheit. Doch wie steht es um die Gegenwart und die Zukunft? Das zeigt eine Reise ins frühere Kampfgebiet. Sie erzählt von Hoffnung genauso wie von Angst. Seit die ukrainische Armee vor genau zwei Jahren die Russen zurückgedrängt hatte, ist viel passiert. Fragt sich: Kann an einem solchen Ort je wieder unbeschwertes Leben beginnen? Die Kämpfe in der Ukraine finden derzeit im Osten statt, doch Putin schickt unbeirrt Raketen. Auch in der Region Butscha ist das Glück deshalb flüchtig, die neue Normalität wird dort noch immer mühsam verhandelt – jeden Tag aufs Neue.
Irpin
Diereiseindie Vorortevonkiewbeginnt in Irpin, demnachbarort von Butscha. Vor Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 lebten hier etwa 60.000 Menschen. Ein gutes Leben. Wer heute herkommt, ist erstaunt, wie viel wieder aufgebaut ist. Im Wald haben die ukrainischen Soldaten neue Wasserleitungen verlegt. Man sieht die verkohlten Pinien, in Brand gesteckt von der russischen Artillerie. Das Stadtgebiet wurde von Panzern und Luftschlägen zerstört, 3.000 Häuser. Jetzt, im März 2024, gibt es viele neue Dächer und Fassaden. Selbst die Zäune sind ausgetauscht – sie waren von Schüssen nur so zersiebt.
In Irpin sieht man, wie weit alles der ukrainische Fleiß und Hilfsgelder vorangebracht haben. Die Weltbank half, auch die EU Kommission. Wenige Ruinen sind noch unberührt.
Erstaunlich ist, wie die Ukrainer das organisiert haben – per App. Man lädt dort Fotos zerstörter Häuser hoch und bewirbt sich um Finanzhilfe. „Die Hälfte des Ortes ist nach unseren Statistiken wieder hergerichtet“, sagt Mykhayilyna Skoryk-shkarivska. Sie überwacht mit ihrer NGO den Neuaufbau. „Im Frühjahr werden die Menschen nun viel schaffen.“
Fortschritt ist sichtbar im Stadtbild, nur ist es damit getan? Hier in der Vorstadt jedenfalls sind viele zerrissen zwischen Neubeginn und Vergangenheit.
Dass beides für den Moment nebeneinander existiert, zeigt sich an der Irpin-brücke. Wer damals floh, musste hinüber, die Ukrainer hatten sie gesprengt, um den russischen Einmarsch zu stoppen. Heute liegen die Trümmer noch immer im Wasser.
Moschtschun
Moschtschunkennenwohlwenige, das Dorf hinter dem Wald. Hier ist kaum etwas wieder aufgebaut. Heute ist das Dorf auf den Beinen, rechtzeitig zum Jahrestag pflastern sie die Straße. Wovor zwei Jahren Artillerie donnerte, bohrt, hämmert und sägt nun alles. „Neunzig Prozent der Häuser hier wurden zerstört“, erzählt Mykhayilyna Skoryk-shkarivska.
Drüben, unter den Pinien, waren ihre Männer zum ersten Mal auf die Russen getroffen. Unter den Bäumen hatte ihre 72. Brigade gekämpft. Und hier sind sie gestorben. Wer überlebte, ist nun hier. Sie haben Gräber hergerichtet im weichen Waldboden, kleine Engel in die Bäume gehängt. Die Gräber sind in blau und gelb geschmückt, den Nationalfarben. Eine Flagge weht überjedemgrab, die Flagge der Nation, die Putin auslöschen will. Seit Kriegsbeginn sind mindestens 31.000 Ukrainer gefallen.
Butscha
Die wohl erstaunlichste Wandlung hat Butscha hinter sich. Die Jablonska-straße ist wieder befahrbar, der Ort, wo die Fotos aufgenommen wurden, die alle sahen. Erschossene Zivilisten, mitten auf der Straße.
35.000Menschenhabenhier gelebt. Viele sind zurück. Auch hier sieht mancher Straßenzug aus wie eine Musterhaussiedlung. Sie bauten zwei große Supermärkte, geöffnet von acht bis 23 Uhr, man zahlt mit dem Handy. Es gibt einen Barbershop, und „Yappo“-sushi. Sogar eine neue McdonaldsFiliale haben sie trotzig hochgezogen. Nur bei Raketenalarm wird sie geschlossen. Dort, wo eben noch das Grauen war, kann man jetzt gemütlich sitzen. Wie geht das? Mykhayilyna Skoryk-shkarivska sagt, dass es gar nicht anders funktioniert. Sie erzählt von ihrem Sohn, er spielt oft Schachin Butscha. Danachhalten sie bei Mcdonalds, für einen dicken Cheeseburger. Ein Bissen Normalität. „Es ist ein Prozess“, sagt die Freiwillige Skoryk-shkarivska. „Das ist der Weg.“Ostern feiern die orthodoxen Christen hier erst im Mai, dieser Sonntag ist der Gedenktag zur Befreiung.
Ein bisschen surreal ist das Tempo beim Neuaufbau durchaus. Dass die Aufarbeitung nicht durch Geldundmaschinen getan ist, zeigt sich an der Kirche. Hier war es, das Massengrab, 116 Menschen lagen darin, auch Kinder. Im Juli 2023 war das Pflaster um die Kirche dann schon wieder neu verlegt. Und wer war danach nicht alles hier: der NATOChef, die ukrainische First Lady, sogar der Außenminister von Guatemala.
Hannah Petrivna hat sie alle kommen und gehen sehen. Petrivna will ihre Kirche zurück, sagt sie. Sie möchte, dass die bösen Bilder endlich weggehen.
Jeden Tag kommt sie her. Es ist hübsch geworden, alles in weiß. Doch Petrivna sitzt etwas verloren in ihrem überpinselten Alptraum. Für sie, die fast Neunzigjährige, war es nicht der erste Krieg. Auch den Zweiten Weltkrieg hat sie erlebt. „Selbst die Deutschen waren netter zu uns als die Russen. Sie haben den Angehörigen verboten, ihre Toten zu beerdigen.“
Alssieputindafürauchnoch beförderte, machte ihr Herz nicht mehr mit. Doch auch das hat Petrivna überlebt. „Ich zittere nur etwas.“Wie sie, hoffen viele hier auf ein Kriegsverbrechertribunal. Wenn irgendwann dann das letzte Pflaster festgeklopft und das letzte Dach gedeckt ist, geht wohl der wahre Neubeginn los.