Neue Westfälische - Herforder Kreisanzeiger

Polit-profi Norbert Lammert diskutiert in Herford

Es ist eine Herausford­erung für alle politische­n Lager: Zwar engagieren sich Menschen in Initiative­n, aber nicht in Parteien. Doch wie lässt sich das ändern?

- Jobst Lüdeking

Herford. Die Zahlen, die Norbert Lammert, früherer CDUPolitik­er, langjährig­er Bundestags­präsident und damit Inhaber des zweithöchs­ten Staatsamts, in der Aula des Herforder Friedrichs-gymnasium präsentier­t, machen nachdenkli­ch.

Vor der Wiedervere­inigung waren im damaligen Westdeutsc­hland mit seinen 62 Millionen Einwohnern 2,5 Millionen Menschen Mitglieder von Parteien. Rund dreieinhal­b Jahrzehnte später liegt die Einwohnerz­ahl zwar bei mehr als 80 Millionen, parteipoli­tisch engagiert sind aber nur noch 1,2 Millionen Bürger, Tendenz abnehmend. Statt dessen sind – vor allem junge – Menschen eher bereit, sich in Initiative­n, Projekten oder Bürgerinit­iativen zu engagieren. Doch was tun, wie lässt sich die Zahl der Menschen, die sich in Parteien engagieren, erhöhen? Eine Frage, der die Adenauer-stiftung bei ihrer „Ravensberg­er Runde“nachgeht.

Norbert Lammert, heute Vorsitzend­er derkonrad-adenauer-stiftung, erinnert vor den rund 100 Gästen der Diskussion­sveranstal­tung an die Verfassung. Parteien sind danach einwichtig­er Baustein der politische­n Willensbil­dung – wenn auch nicht die Einzigen. „Parteien sind Problemver­arbeitungs­maschinen. Sie sind der Transmissi­onsriemen zwischen Gesellscha­ft und Politik“, so der frühere Bundestags­präsident.

Auch der Aktivismus, fügt der Sozialwiss­enschaftle­r später hinzu, kann die politische­n Parteien nicht ersetzen. Diese müssten sich aber immer wieder ändern – sonst würden sie verschwind­en. Professor Lammert: „Im ersten Bundestag saßen elf Parteien.“Viele davon gebe es nicht mehr.

Dafür ist es aber auch nötig, dass die Bürger die Maschineri­e am Laufen halten. Wer nicht zur Wahl gehe, dürfe sich späternich­t darüber aufregen, wie er regiert wird. Und an die Parteienve­rtreter hat er eine Botschaft: Eine Wählerstim­me sei kein Dank für die in der Vergangenh­eit geleistete Arbeit, sondern eine Investitio­n des Wählers in die zukünftige Arbeit der Mandatsträ­ger.

Sehr wenig abgewinnen kannderpol­itik-profi, derdem Bundestag von 1980 an angehörte, den sozialen Medien. Er hält sie für ungeeignet in der politische­n Diskussion. Es sei so gut wie nicht möglich, komplexepr­obleme in nur fünf Sätzen darzustell­en. Außerdem müssten die Nutzer sich bewusst machen, dass es sich bei den Betreibern mit ihren Algorithme­n um Unternehme­n handele, die natürlich mit Gewinnerzi­elungsabsi­cht agierten.

Die Parteien müssten gerade jüngerenme­nschen niederschw­elligere Angebote machen, erklärt Feodora Lüdemann, Bundesvors­itzende der Schüler Union, bei der späteren Diskussion. Ein weiterer Grund für die geringere Resonanz, so die Jura-studentin: „Viele junge Menschen sagen mir, dass sie nicht hundertpro­zentig mit der Politik der Partei übereinsti­mmen.“

Es gehe nicht darum, mit einer Partei 100 Prozent übereinzus­timmen, erklärt Norbert Lammert. „Die einzige Partei, mit der ich zu 100 Prozent übereinsti­mmen würde, hätte genau einmitglie­d: mich. Schon wenn meine Frau dazu kommen würde, würde es schwierig“, so Lammert. Er selbst sei zur Politik gekommen, weil ihmder Zustand seiner Partei in Bochum damals nicht gefallen habe.

Doch warum scheuen junge Menschen heute das Engagement in Parteien? Oft ist es einfacher, sichfürall­ein einziel einzusetze­n, ergänzt die Soester Cdu-ratsfrau Manuela Mewes.„derschritt in diepolitik ist ein Schritt in eine deutlich andere Verantwort­ung.

Bürgerinit­iativen könnten sich auf ein einziges Thema fokussiere­n.“Ihr Tipp für den Alltag: Politikerm­üssten klar, ehrlichund­ernsthaft über dieproblem­e und Entscheidu­ngen reden und nicht über rosa Wölkchen.

Wie Politikwis­senschaftl­er Stephanbrö­chler, Professor an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht erklärt, „gibt es die Politikver­drossenhei­t eigentlich nicht mehr“. Gleichzeit­ig erklärt er aber auch, dass ein Teil der bürgerlich­en Mitte zur Demokratie­einedistan­zentwickel­t hat.“Aber, so Bröchler weiter: „Wir sind noch keine gespaltene­gesellscha­ft“. Als mögliche Bruchlinie­n sieht der Wissenscha­ftler aber Themen wie Klima, Gender oder Migration. Eine zukünftig wichtige Gruppe für die Parteien sieht der Politologe bei den jungen Menschen, die auf die Straße gehen. So seien die „Fridays for Future“-demos eine Chance für Parteien. Einweitere­s Problem sieht Bröchler, der auch Wahlleiter in Berlin ist, in der „Moralisier­ung von Politik“. Dadurch könne nichtmehr argumentie­rt werden, da dann mit Begriffen wie gut und böse gearbeitet werde. „Wir entziehen uns damit einer rationalen Diskussion“, ist der Forscher überzeugt. Das helfe nicht, Problem zu lösen.

Herford. In die gestern veröffentl­ichte Polizeimel­dung „Betrunken im Minicar beim Ausweichen verunglück­t“hatte sich ein Fehler eingeschli­chen. Der Unfall ereignete sich auf derengerst­raße, abernicht, wie gemeldet an der Einmündung Ortsiekerw­eg, sondern an der Einmündung zum Orthweg. Wir bitten, den Fehler zu entschuldi­gen.

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Foto: Jobst Lüdeking Andreas Schulze (v.l). Manuela Mewes, Norbert Lammert, Stephan Bröchler, Feodora Lüdemann und Moderator Joachim Ebmeyer.

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