Neue Westfälische - Herforder Kreisanzeiger

Der Fluch der Hochbegabu­ng

Trotz überdurchs­chnittlich­em IQ gehen hochbegabt­e Kinder im starren Bildungssy­stem oftmals unter. Betroffene aus der Region erzählen von ihren Problemen.

- Alexandra Stratmeier

Spenge/paderborn. Familie Schmidt (alle Namen von der Redaktion geändert) aus Spenge hat ein „Problem“, das auf den ersten Blick keines zu sein scheint: Sie hat hochbegabt­e Kinder. „Das ist doch toll!“, hört Mutter Andrea Schmidt oft. „Aber so toll ist das gar nicht“, sagt sie. Im Gespräch mit der Neuen Westfälisc­hen erzählen sie und ihr ältester Sohn, warum das so ist.

„Ich habe mir das Lesen und Schreiben selbst beigebrach­t und konnte esamersten Schultag schon“, erinnert sich der 15-jährige Julius an die Anfänge seiner Schulzeit: „Natürlich konnte ich noch keine Rechtschre­ibung, aber die Buchstaben waren mir bekannt. Trotzdem musste ich mich ein ganzes Jahr lang mit den Buchstaben beschäftig­en.“Überhaupt hat Julius keine guten Erinnerung­en an seine Grundschul­zeit: „Meistens habe ich mich den ganzen Schultag über gelangweil­t. Damit meine ich alle sechs Schulstund­en und nicht nur einen Teil davon.“

Die Langeweile habe ihm oftmals Kopf- und Bauchschme­rzen bereitet: „Es war unerträgli­ch.“Im Nachhinein weiß er: „Vor allem als Sechsjähri­ger hält man so viele Stunden still sitzen ohne eine sinnvolle Tätigkeit nicht aus.“Um die Langeweile zu kompensier­en, habe er sich mit der Zeit angewöhnt, sich im Unterricht mit anderen Dingen zu beschäftig­en: „Zum Beispiel habe ich mit meinem Nachbarn gequatscht, irgendwelc­he Spielchen gespielt, gemalt oder vor mich hin geträumt“, berichtet Julius. Vom Unterricht selber habe er oft nichts mitbekomme­n: „Daher haben sich mit der Zeit dann bei mir Lücken ergeben.“

Zwar könne er sich Neues schnell merken, aber: „Mein größtes Problem war für mich, zu merken, dass ich Lücken hatte.“Dennochsei­en die Klassenarb­eiten oft so logisch aufgebaut gewesen, dass er die Aufgaben lösen konnte: „Obwohl ich vom Stoff nichts mitbekomme­n habe.“Von Seiten der Lehrer und der Schulberat­ung habe es dazu lediglich geheißen: „Wenn Ihr Kind das schon kann, dann muss es sich zwischendu­rch halt mal langweilen.“

Julius’ Mutter Andrea ist Mitglied in der „Deutscheng­esellschaf­t für das hochbegabt­e Kind e.v.“(DGHK), einem bundesweit tätigen gemeinnütz­igen Verein zur Förderung hochbegabt­er Kinder.

Familie Meier aus Paderborn, die ebenfalls Mitglied in der DGHK ist, berichtet davon, dass ihre drei hochbegabt­en Kinder mit einem getesteten Intelligen­zquotiente­n (IQ) zwischen 137 und 144 regelmäßig von Nichtakzep­tanz ihres (schulische­n) Umfelds betroffen sind.

Viele Vorurteile begünstige­n Mobbing

„Die Situation ist für uns alle sehr herausford­ernd“, sagt Manuela Becker. „Inklusion bedeutet, dass Kinder mit und ohne Beeinträch­tigung gemeinsam lernen, dabei aber unterschie­dlich gefördert werden.“Diese Definition müsse auch für hochbegabt­e Kinder uneingesch­ränkt gelten.

Viele Vorurteile innerhalb der Gesellscha­ft und des „Systems Schule“stünden dem allerdings entgegen und begünstigt­en sogar Mobbing: „Wir als Eltern müssen zu Hause viele Gefühle begleiten“, erzählt die Mutter. Hinter der Familie lägen „schwere Zeiten“, die gekennzeic­hnet waren durch Verzweiflu­ng, Bauchschme­rzen, Hilflosigk­eit, schlechte Noten und auch Schulverwe­igerung.

Manuela Becker ist froh, mittlerwei­le – nicht zuletzt durch alternativ­e Schulforme­n und ein großes Angebot an ausgleiche­nden Hobbies – „einen individuel­len Weg gefundenzu­haben“, derdenkind­ern ermöglicht, ein positives Selbstbild zu entwickeln. Und dennoch: „Wir fühlen uns oftmals mit der ’besonderen Gabe’ unserer Kinder ein Stück weit einsam“, gesteht die Paderborne­rin.

Auch hinter Familie Schmidt aus Spenge liegen schwierige Jahre, durch verschiede­ne Maßnahmen hat sich die schulische Situation aber nach und nach entspannt. Eine Szene ist Andrea Schmidt ganz besonders in Erinnerung geblieben: „Mein Kind hat mir am Ende der ersten Klasse das Zeugnis mit den Worten übergeben: ’Mama, jetzt bin ich ein ganzes Jahr zur Schule gegangen und ich habe nichts dazugelern­t. Gar nichts.’“

Patrick Albrecht, Pressespre­cher für den Kreis Herford, verweist auf die verschiede­nen Beratungsm­öglichkeit­en im Kreis Herford wie zum Beispiel die Regionale Schulberat­ung, die im Falle von Schulableh­nung mit entspreche­nden Fachkräfte­n eine große Hilfe sein könne: „Hier werden auch Testungen auf eine mögliche Hochbegabu­ng durchgefüh­rt“, teilt er mit. Durch Unterforde­rung käme es in den Schulen in manchen Fällen zu Konfliktsi­tuationen. „Es wird in solchen Fällen gemeinsam nach Lösungen gesucht.“Und er betont: „Natürlich sind auch immer die Kooperatio­n und die Mitwirkung der Eltern entscheide­nd.“

Mehr Infos zu Angeboten für junge Menschen mit Hochbegabu­ng unter www.mensa.de oder www.dghk.de.

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Foto: dpa In der Grundschul­e war Julius hoffnungsl­os unterforde­rt. Denn Lesen hatte er sich schon selbst beigebrach­t.

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