Neue Westfälische - Herforder Kreisanzeiger
Der Fluch der Hochbegabung
Trotz überdurchschnittlichem IQ gehen hochbegabte Kinder im starren Bildungssystem oftmals unter. Betroffene aus der Region erzählen von ihren Problemen.
Spenge/paderborn. Familie Schmidt (alle Namen von der Redaktion geändert) aus Spenge hat ein „Problem“, das auf den ersten Blick keines zu sein scheint: Sie hat hochbegabte Kinder. „Das ist doch toll!“, hört Mutter Andrea Schmidt oft. „Aber so toll ist das gar nicht“, sagt sie. Im Gespräch mit der Neuen Westfälischen erzählen sie und ihr ältester Sohn, warum das so ist.
„Ich habe mir das Lesen und Schreiben selbst beigebracht und konnte esamersten Schultag schon“, erinnert sich der 15-jährige Julius an die Anfänge seiner Schulzeit: „Natürlich konnte ich noch keine Rechtschreibung, aber die Buchstaben waren mir bekannt. Trotzdem musste ich mich ein ganzes Jahr lang mit den Buchstaben beschäftigen.“Überhaupt hat Julius keine guten Erinnerungen an seine Grundschulzeit: „Meistens habe ich mich den ganzen Schultag über gelangweilt. Damit meine ich alle sechs Schulstunden und nicht nur einen Teil davon.“
Die Langeweile habe ihm oftmals Kopf- und Bauchschmerzen bereitet: „Es war unerträglich.“Im Nachhinein weiß er: „Vor allem als Sechsjähriger hält man so viele Stunden still sitzen ohne eine sinnvolle Tätigkeit nicht aus.“Um die Langeweile zu kompensieren, habe er sich mit der Zeit angewöhnt, sich im Unterricht mit anderen Dingen zu beschäftigen: „Zum Beispiel habe ich mit meinem Nachbarn gequatscht, irgendwelche Spielchen gespielt, gemalt oder vor mich hin geträumt“, berichtet Julius. Vom Unterricht selber habe er oft nichts mitbekommen: „Daher haben sich mit der Zeit dann bei mir Lücken ergeben.“
Zwar könne er sich Neues schnell merken, aber: „Mein größtes Problem war für mich, zu merken, dass ich Lücken hatte.“Dennochseien die Klassenarbeiten oft so logisch aufgebaut gewesen, dass er die Aufgaben lösen konnte: „Obwohl ich vom Stoff nichts mitbekommen habe.“Von Seiten der Lehrer und der Schulberatung habe es dazu lediglich geheißen: „Wenn Ihr Kind das schon kann, dann muss es sich zwischendurch halt mal langweilen.“
Julius’ Mutter Andrea ist Mitglied in der „Deutschengesellschaft für das hochbegabte Kind e.v.“(DGHK), einem bundesweit tätigen gemeinnützigen Verein zur Förderung hochbegabter Kinder.
Familie Meier aus Paderborn, die ebenfalls Mitglied in der DGHK ist, berichtet davon, dass ihre drei hochbegabten Kinder mit einem getesteten Intelligenzquotienten (IQ) zwischen 137 und 144 regelmäßig von Nichtakzeptanz ihres (schulischen) Umfelds betroffen sind.
Viele Vorurteile begünstigen Mobbing
„Die Situation ist für uns alle sehr herausfordernd“, sagt Manuela Becker. „Inklusion bedeutet, dass Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam lernen, dabei aber unterschiedlich gefördert werden.“Diese Definition müsse auch für hochbegabte Kinder uneingeschränkt gelten.
Viele Vorurteile innerhalb der Gesellschaft und des „Systems Schule“stünden dem allerdings entgegen und begünstigten sogar Mobbing: „Wir als Eltern müssen zu Hause viele Gefühle begleiten“, erzählt die Mutter. Hinter der Familie lägen „schwere Zeiten“, die gekennzeichnet waren durch Verzweiflung, Bauchschmerzen, Hilflosigkeit, schlechte Noten und auch Schulverweigerung.
Manuela Becker ist froh, mittlerweile – nicht zuletzt durch alternative Schulformen und ein großes Angebot an ausgleichenden Hobbies – „einen individuellen Weg gefundenzuhaben“, derdenkindern ermöglicht, ein positives Selbstbild zu entwickeln. Und dennoch: „Wir fühlen uns oftmals mit der ’besonderen Gabe’ unserer Kinder ein Stück weit einsam“, gesteht die Paderbornerin.
Auch hinter Familie Schmidt aus Spenge liegen schwierige Jahre, durch verschiedene Maßnahmen hat sich die schulische Situation aber nach und nach entspannt. Eine Szene ist Andrea Schmidt ganz besonders in Erinnerung geblieben: „Mein Kind hat mir am Ende der ersten Klasse das Zeugnis mit den Worten übergeben: ’Mama, jetzt bin ich ein ganzes Jahr zur Schule gegangen und ich habe nichts dazugelernt. Gar nichts.’“
Patrick Albrecht, Pressesprecher für den Kreis Herford, verweist auf die verschiedenen Beratungsmöglichkeiten im Kreis Herford wie zum Beispiel die Regionale Schulberatung, die im Falle von Schulablehnung mit entsprechenden Fachkräften eine große Hilfe sein könne: „Hier werden auch Testungen auf eine mögliche Hochbegabung durchgeführt“, teilt er mit. Durch Unterforderung käme es in den Schulen in manchen Fällen zu Konfliktsituationen. „Es wird in solchen Fällen gemeinsam nach Lösungen gesucht.“Und er betont: „Natürlich sind auch immer die Kooperation und die Mitwirkung der Eltern entscheidend.“
Mehr Infos zu Angeboten für junge Menschen mit Hochbegabung unter www.mensa.de oder www.dghk.de.