Neue Westfälische - Höxtersche Kreiszeitung
Mutterschaft in Madagaskar
Die Warburger Hebamme Ingrid Kronast reist für drei Wochen zu einem Praktikum nach Madagaskar. Im „Nw“-gespräch berichtet sie über ihre Erfahrungen und erklärt, warum jede Geburt einzigartig ist.
Warburg. Ingrid Kronast, eine erfahrene Hebamme aus der Warburger Altstadt, hat in ihrer 31-jährigen Karriere schon vieles gesehen. Doch nichts konnte sie darauf vorbereiten, die Geburtshilfe in Madagaskar zu erleben. Von ihren Anfängen im Krankenhaus in Warburg bis hin zu ihrer Arbeit im Geburtshaus Storchennest in Hofgeismar hat Ingrid die Vielfalt der Mutterschaft kennengelernt. Doch erst ihr Praktikum in Madagaskar sollte ihr einen völlig neuen Einblick in die Herausforderungen und Schönheiten der Geburtshilfe geben.
Ingrid Kronast ist ein ziemlich bekanntes Gesicht in der Region – besonders unter Eltern. Die 55-Jährige, die selbst Mutter von drei Töchtern (einmal Zwillinge) ist, beschloss vor einem Jahr, ein Bachelorstudium in Bochum zu beginnen. Die Akademisierung des Hebammenberufs in Deutschland trieb sie damals an, denn sie glaubt fest daran, dass praktische Erfahrung und theoretisches Wissen Hand in Hand gehen sollten, berichtet sie im Gespräch mit der „Neuen Westfälischen“.
Sie begann ihre Karriere vor vielen Jahren in einem Krankenhaus in Warburg, wo Frauen nach der Geburt damals noch eine ganze Woche lang im Krankenhaus verweilten. Außerdem war sie die erste Hebamme in der Warburger Umgebung, die freiberuflich die Wochenbettbetreuung anbot. Später arbeitete sie im Geburtshaus Storchennest in Hofgeismar, wo sie die Vorteile einer individuellen Betreuung und einer engen Beziehung zu den werdenden Müttern besonders schätzte.
Außerdem setzt sie sich Vorstandsmitglied des Bundes Freiberuflicher Hebammen Deutschlands (BFHD) für die Anerkennung und angemessene Bezahlung der Hebammen ein.
Es folgten weitere Jahre als Hebamme in der freiberuflichen Hausgeburtshilfe. Diese Erfahrungen prägten ihre Überzeugung, dass die Verbindung zwischen Hebamme und Mutter von entscheidender Bedeutung ist und dass eine akademische Ausbildung den Beruf weiter verbessern könnte. Sie möchte später selber lehren, weil sie daran glaubt, dass die Theorie unbedingt durch die Praxis und Erfahrung ergänzt werden muss, erklärt sie im Gespräch.
Während des Hebammenstudiums ist unter anderem ein dreiwöchiges Praktikum Pflicht, die Ingrid Kronast mit ihrem Herzenswunsch, einmal im Ausland den Hebammen-beruf kennenzulernen, verband. Jetzt, wo ihre eigenen Kinder schon erwachsen sind, bot sich ihr die Möglichkeit, ihre Erfahrungen international zu erweitern.
Ein Zufall führte sie nach Madagaskar. „Als ich mich nach Praktikumsstellen umschaute, ermutigte mich eine französische Mutter nach Afrika zu gehen“, erzählt sie. „Durch Recherchen im Internet stoß ich auf MHM, Mobile Hilfe Madagaskar, eine NGO (non-governmental organisation), die von einer deutschen Hebamme Tanja Hock 2006 gegründet wurde.“
Ohnearbeitserlaubnisdurfte die Warburgerin zwar nicht selbst aktiv als Hebamme dort arbeiten. Sie nutzte jedoch die Gelegenheit, um in dem fremden Land zu beobachten und viel Neues zu lernen.
Das kleine Krankenhaus in Ambovo, wo sie ihr Praktikum absolvierte, war eine Welt entfernt von den Standards, die sie aus Deutschland kannte. „Für madagassische Verhältnisse aber nicht schlecht. Es gab ein CTG- und ein Ultraschallgerät“, zählt sie auf. In dem kleinen Krankenhaus arbeiten ausschließlich Hebammen, sogar ohne Ärzte. „Sie sind Geburtshelfer, Krankenschwester, Anästhesisten, Chirurgen. Sie leisten viel mehr Hilfe, als ihre tatsächlichen Aufgaben sein sollten. Nur die Kaiserschnitte dürfen sie nicht machen.
Dafür kommt ein Arzt aus der Hauptstadt, Antananarivo. Circa 15 Kilometer sind das mit dem Auto. Auch wenn alles gut läuft, dauert es 45 Minuten bis eine Stunde für die Autofahrt“, seufzt Ingrid, „es
gibt nämlich nur schlechte Straßen oder gar keine.“
Die Geburten verlaufen oft schneller als in Deutschland. Vielleicht deswegen, weil die meisten Frauen zur Geburt schon einen langen Weg zu Fuß hinter sich bringen. Manchmal dauert der Marsch zum Krankenhaus stundenlang. Sie werden dabei ab und zu von ihren Familien unterstützt, oft kommen ältere Kinder mit. Die Verpflegung der Gebärenden liegt in der Hand ihrer Familie, das ist in Madagaskar so üblich.
Dank Spendengeldern aus Deutschland und Amerika könne man den Frauen sauberes, gefiltertes Wasser bereitstellen und eine gewisse Grundversorgung sicherstellen. Das Krankenhaus hat trotzdem begrenzte Ressourcen. „Nach der Geburt muss die Familie den Kreißsaal selber putzen und das erste Blut aus den Tüchern auswaschen. Erst danach geht die Wäsche zur Wäscherei im Krankenhaus. Es war für mich sehr ungewöhnlich“, berichtet Kronast.
Sie konnte viel beobachten und dazulernen. Sie erlebte zum Beispiel, wie tapfere Frauen zwei bis drei Stunden nach der Geburt das Krankenhaus verließen und nach Hause gingen, als wäre nichts passiert. Aufgrund der enormen körperlichen Beweglichkeit und Ausdauer der Frauen verliefen die Geburten viel schneller als hierzulande. „Die Frauen kennen kaum Schmerzmittel, sie verlangen nicht nach einer PDA. Die Muttermünder gingen so schnell auf“, staunt Ingrid noch heute.
Trotz der erschwerten Bedingungen arbeiteten die Hebammen mit großer Hingabe und vor allem mit Intuition. „Sie leisten außerdem eine wertvolle Präventionsarbeit, indem sie ihre Patientinnen über Verhütung aufklären und sogar Verhütungsmitteln einsetzten. Bei uns wäre das unvorstellbar.“
Das Stillen spielt eine entscheidende Rolle im Kontext der mütterlichen Gesundheit und der Säuglingsfürsorge in Madagaskar. An jeder Ecke werde gestillt und es sei ein zutiefst intuitives und sozialerlerntes Tun. Trotz der Herausforderungen, denen die Frauen gegenüberstehen, wie etwa Unterernährung, gelinge das Stillen in Madagaskar in den meisten Fällen sehr gut. In einigen Fällen, in denen Mütter nicht genug Muttermilch haben, helfen sie sich gegenseitig aus. Frauen, die viel Milch haben, pumpen diese ab und geben sie an andere Mütter weiter. Diese Solidarität unter den Frauen ist ein bemerkenswertes Merkmal der mütterlichen Gemeinschaft in Madagaskar.
Die Geburten, die Vor- und Nachsorge für die Frauen aus dem Umkreis ist kostenlos. Für diejenigen, die aus den weiteren Regionen kommen, weil sie eine gute Versorgung haben möchten, kostet die Betreuung 20 Euro. „Für Madagassen ist das viel Geld. Der Mindestlohn beträgt dort 1 Euro pro Tag. Man kann aber eine Ratenzahlung vereinbaren“, erzählt die Warburger Hebamme.
„Dass die Geburten in Madagaskar anders als in Deutschland verlaufen. Man sagt bei uns immer, dass die Kinder überall gleich auf die Welt kommen und das stimmt für mich nicht mehr“, sagt die 55Jährige auf die Frage, was sie am meisten verwundert habe.
In einem der zehn ärmsten Ländern der Welt, kämpfen die Frauen oft mit Unterernährung, was zu frühzeitigen Geburten und einer höheren Säuglingssterblichkeit führt. 38 Babys von 1.000 überleben die Geburt nicht. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Statistik bei 3 von 1.000 und in der außerklinischen Geburtshilfe bei 1,5 von 1.000.
Die Erfahrungen in Madagaskar brachten sie zu dem Schluss, dass jede Geburt einzigartig ist, die Demut, Respekt und Verständnis erfordert und dass kulturelle Unterschiede manchmal doch eine große Rolle spielen. Ingrid Kronast erkannte dadurch die Bedeutung von Praxis und Theorie in der Hebammenausbildung und ihre eigene Rolle als zukünftige Mentorin für werdende Hebammen.
„Sie sind Geburtshelfer, Krankenschwester, Anästhesisten, Chirurgen“
„Sie leisten viel mehr Hilfe, als ihre tatsächlichen Aufgaben sein sollten“