Neue Westfälische - Höxtersche Kreiszeitung
Geschichte fängt vor der Haustür an
Mark und Amy Bierhoff und die Töchter Jennifer und Sydney sind in Bonenburg und Warburg ihren jüdischen Vorfahren auf der Spur. Sie loben die Erinnerungskultur zum Holocaust, die sie aus den USA so nicht kennen.
„Die Geschichte bleibt lebendig, wenn sie erzählt wird“, sagt Eva Goelden und schaut genauer hin. Nur wer um die Vergangenheit wisse, könne die Zukunft gestalten, davon ist die Bonenburgerin überzeugt. Und davon, dass Geschichte vor der eigenen Haustür anfängt. Wie die Erinnerung an das Schicksal von Käthe und Max Bierhoff aus ihrer Nachbarschaft. Gedemütigt, deportiert, ermordet. Die vier Kinder des jüdischen Ehepaares können Ende der 1930er vor den Nazis in die USA fliehen. Dort sind sie Emigranten. Jetzt sucht die Familie des Enkels nach Spuren, die sich noch finden lassen, möchte dem Geschehenen nachgehen, dem mit dem Verstand allein nicht beizukommen ist.
Eine Postkarte aus dem KZ ist das letzte Lebenszeichen. Die hatte Max 1944 an den früheren Nachbarn Willi Beküwe in den Heimatort geschickt. Ob Nachricht von den Kindern gekommen sei. Postbote Seewald solle sie an die angegebene Adresse schicken: Theresienstadt, Badhausgasse 2. „Als Todesdatum ist der 20. August 1944 genannt“, sagt Geschichtspädagogin Goelden. Ehefrau Käthe sei in Auschwitz verschollen.
Die Familien Bierhoff, Kronenberg, Lilienthal und Cohn hatten einst ihren festen Platz im Ort. Nach der Reichskristallnacht eine erste Inhaftierung. Auch wenn sich einige Bürger schützend davorstellten, wie erzählt wird. Max und Sohn Alfred, krank und geistig behindert, verschwinden im KZ Buchenwald. „Nach einem Monat kehren sie wieder zurück“, weiß Goelden. „Von der Internierung gibt es noch die Inhaftierungskarte.“
Dann wandern alle vier Kinder über Spanien und Portugal in die USA aus. Nach New York, New Jersey, Philadelphia. Max, im Ersten Weltkrieg mehrfach ausgezeichnet, nach einer Verwundung war der linke Arm steif geblieben, und Käthe bleiben in Bonenburg. Als Träger des Eisernen Kreuzes habe sich Max immer recht sicher gefühlt, sagt Goelden. „Ein angesehner Landwirt, ein beliebter Viehhändler und immer äußerst hilfsbereit“. Bierhoff habe seinen Beruf nicht mehr ausüben dürfen, „verarmte, 1942 hatten er und die Frau nur noch das Nötigste zum Leben“. Einige Bonenburger stecken ihnen heimlich Brot und andere Lebensmittel zu, um zu helfen. Dann die Deportation. Am 1. August 1942.
Der letzte Gang durch das Dorf führt Max und Käthe am Tag zuvor mit zwei Koffern zum alten Bonenburger Bahnhof. Mit sechs weiteren Menschen jüdischen Glaubens aus der Region, die bis dahin in ihrem Wohnhaus eine letzte Zuflucht gefunden hatten. Weiter geht es zur Sammelstelle nach Münster und später im Bahnwaggon ins KZ Theresienstadt.
Goelden hatte in den Sozialen Medien Adressen, die Bierhoff im Namen trugen, angeschrieben. Wer weiß etwas? Auch in Philadelphia wurde der Aufruf gelesen. Doch hatte ihn Mark Bierhoff (69) zunächst für eine Junk-mail gehalten. Wochen später meldet er sich dann doch: „Ja, der Ernst, das ist mein Vater“. Seit 2019 besteht der Kontakt.
Ernst, der jüngste Sohn von Max und Käthe Bierhoff war 1922 geboren worden, Kurt, der älteste 1914, Mary 1917 und Alfred 1919. Sie leben nicht mehr. Alle vier Geschwister waren Ende 1938 über Spanien und Portugal in die USA ausgewandert.
Die Mutter des Gastroenterologen im Ruhestand stammt aus Luxemburg. „Die beiden hatten sich bei der Ausreise auf dem Schiff kennengelernt“, übersetzt Goelden die Worte Marks. Erste Mitglieder der Familie Bierhoff hatten sich bereits zuvor im 19. Jahrhundert aus den Dörfern Bonenburg und Borgentreichs auf den Weg in die neue Welt gemacht. Der Vater von Max sei einmal illegal ein- und wieder ausgewandert, heißt es.
„Mark wollte schauen, wo seine Wurzeln sind, wollte sehen, wo sein Großvater, wo sein Vater gelebt und als Schreiner gearbeitet hatte“, sagt Goelden und brachte seine Familie mit. Gattin Amy (65) und die Töchter Jennifer (31) und Sydney (27). „Was sie sehen wollten, war das Wohnhaus, das Großvater Max 1927 an der Ikenhauser Straße mit Scheune und Stallungen für die Familie gebaut hatte. Sohn Ernst betrieb in Amerika einen Holzhandel, starb im Alter von 86 Jahren 2009 in New Jersey.
Zwei Tage nach der Deportation war das Hausinventar schon meistbietend versteigert, das Anwesen verkauft. 1958 erwirbt es Bernhard Schwiddessen. Jetzt führten Barbara und Anton Schwiddessen die Nachfahren des Erbauers durch Haus und Stallung, zeigten Fotoaufnahmen aus alter Zeit. Der Eingang sei original und ebenso wie der Fußboden erhalten, bemerkt Goelden. „Unsere Besucher haben wahnsinnig viele Fotos gemacht. Ergreifend.“
Beim Kaffeetrinken erzählte Josef Michels, der Sohn des ehemaligen Knechts, der von 1924 bis 1934 auf dem Bierhoff-hof gearbeitet hatte, vom Besuch von Ernst Bierhoff bei seinen Eltern Johannes und Ingrid Michels. Das war 1985.
Den Nachfahren sei es bei ihrem jetzigen Besuch besonders wichtig gewesen, „den letzten Gang des Ehepaars Bierhoff nachzuempfinden“, sagt Renate Matthes (63). Die Tochter der ehemaligen Nachbarn der Bierhoffs begleitete mit Goelden die amerikanische Familie bis zum Gelände des ehemaligen Bahnhofs.
Seit Langem planen Goelden und Matthes Stolpersteine für die ermordeten jüdischen Mitbewohner und ihre vier Kinder zu verlegen oder eine Stele zu setzen. Zur Ausstellung des Künstlerkollektivs „Spirit Heart“vor zwei Jahren in Bonenburg hatten Renate Matthes und Eva Goelden die Lebensgeschichten von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und jüdischen Familien in ihrem Heimatort aufgearbeitet.
Bewegende Momente und lebendige Begegnungen: Nach drei Tagen Berlin, einem Auschwitz-besuch, der Spurensuche in Bonenburg und Warburg geht es weiter nach Rothenburg und Nürnberg. „Die zehn Tage der Reise waren mir ein Anliegen“, sagt Mark Bierhoff.
Die Erinnerung werde in Deutschland als Kultur gelebt, sagt Tochter Sydney, eine Rechtsanwältin. Vielmehr als in den USA. Dort tue man sich damit schwer. „Ich fühle mich als Jüdin nicht sicher“, sagt sie dann. Der Antisemitismus keime unter dem Deckmantel Pro Palästina und Protesten gegen das israelitische Vorgehen im Gaza-streifen wieder auf. Antisemitismus sei im Land aktuell allgegenwärtig.