Neue Westfälische - Höxtersche Kreiszeitung
Geheime Nato-raketenstation wird Naturparadies
30 Jahre lang war das elf Hektar große Gelände im Schwalenberger Wald unweit von Steinheim hermetisch abgeriegelt. Niederländische Soldaten betrieben hier eine Hawk-stellung. Der ehemalige Förster Friedrich Schierholz erinnert sich an eine brandgefährlich
Schwalenberg/steinheim.
Verborgen im 3000 Hektar großen Schwalenberger Wald, hoch oben auf dem Mörth, stößt der Wanderer plötzlich auf einen Lost Place. Das alte Metalltor steht offen und gibt den Weg frei. Wer hindurchgeht, trifft auf vergessene Metalldrähte und Asphaltstraßen, aus denen der Bärenklau wächst. Auf ehemalige Rampen, inzwischen zugewuchert, und künstlich angelegte Gräben, die noch schwach auszumachen sind. Und auf einen alten Bunker, der mit allerlei Graffiti aus verschiedenen Epochen besprüht ist. 30 Jahre lang war das Gelände, kaum sieben Kilometer von Steinheims Stadtgrenze entfernt ein Hochsicherheitsgebiet. Ein wichtiger militärischer Nato-standort, die Station „328 Squadron“der Niederländer, mit Flugabwehrraketen bestückt. Vor 30 Jahren ist der militärische Lärm der absoluten Stille gewichen.
Friedrich Schierholz kann heute schmunzeln, wenn er sich daran erinnert, wie er einmal einem Tornado-piloten ins Cockpit geschaut hat und im wahrsten Wortsinn auf Augenhöhe begegnete. Er zeigt die Stelle im Wald, an der die unheimliche Begegnung stattfand. Es war ein Schreckmoment, begleitet von höllischem Lärm. Bäume, die dort heute stehen, waren nicht im Weg, der Kampfjet-pilot versuchte womöglich, unter dem Radar hindurch zu fliegen. Dann das Zusammentreffen mit dem damaligen Revierförster, nur den Bruchteil einer Sekunde, Aug in Aug. Ob jener brandgefährliche Tiefflug erlaubt war? Schierholz zuckt mit den Schultern. Vermutlich nicht – wie so vieles hoch oben auf dem Mörth.
Hawk-gürtel von Dänemark bis Österreich
Die Hawk-raketenstation wurde 1964 gebaut. Es war die Zeit des Kalten Krieges, die NATO richtete einen Gürtel mit Hawk-stellungen ein, welcher sich von der dänischen Grenze quer durch Deutschland bis zur Grenze nach Österreich erstreckte. Auf dem Velmerstot bei Sandebeck gab es in unmittelbarer Nähe weitere Flugabwehrraketen-stellungen.
Dienst taten im Schwalenberger Wald die niederländischen Soldaten der Einheit 3. GGW (Groep Geleide Wapens), für die ebenfalls 1964 eine Kaserne im Blomberger Industriegebiet Feldohlentrup errichtet wurde. Sie lebten dort mit ihren Familien und Angehörigen. Im Schwalenberger Stadtbild spielten die Soldaten keine Rolle, erinnert sich Schierholz.
Die einzige befestigte Straße, die damals hoch aufs Mörth führte, war der Jagdweg, der irgendwo zwischen Rischenau und Schwalenberg in den Wald abzweigt. Aufwendig wurde der Weg laut Schierholz zu einer richtigen Straße ausgebaut, sogar mit Leitpfosten bestückt und im Winter schneefrei gehalten. Gleich am Fuße des steilen Anstiegs versperrte ein Schlagbaum den Weg für die Autofahrer. Ortsunkundige hätten die Route sonst womöglich für eine reguläre Straße gehalten, glaubt der ehemalige Förster, der 2020 in den Ruhestand ging.
Friedrich Schierholz war damals selbst noch ein Kind, doch sein Vater zeichnete im Auftrag des Landesverbandes Lippe
schon als Förster für das Mörth verantwortlich, in dem auf der 446 Meter hohen Anhöhe die Raketenstation entstand. Die alten Akten, die Friedrich Schierholz im Keller fand, zeugen von Auftragsarbeiten wie der Umzäunung des elf Hektar großen Militärstandortes, die ein Rischenauer Schmied ausführte, ebenso wie von Unstimmigkeiten zwischen den Soldaten und der Bevölkerung.
Ärger mit Anwohnern und Jägern
Ärger gab es wegen Abholzungen, wegen Tieffliegern, aber auch, weil ohne Erlaubnis im Wald gefahren oder nach einem Manöver nicht ordentlich aufgeräumt wurde: Alte Telefonlitzen, Tarnnetze oder Müll – vieles sei achtlos liegen gelassen worden. Und dann dieser Lärm: Schierholz kramt in den Akten und findet ein Schreiben von Teilnehmern einer Jagd, die sich darüber beschwerten, dass die lauten Befehle, die über Außenlautsprecher übertragen wurden, noch drei Kilometer entfernt zu hören gewesen seien.
Friedrich Schierholz übernahm das Revier im Jahre 1983, als sein Vater in Pension ging. Im Jahr zuvor, erinnert er sich, hätten die Holländer noch einmal ordentlich aufgerüstet – diesmal gegen den inneren Feind, die dritte Generation der Terrororganisation RAF. Plötzlich gab es einen doppelten Zaun um die Raketenstation, eine weitere Straße rundherum, auf der Posten Streife fuhren und Soldaten mit Schäferhunden patrouillierten.
Streng geheim war der Militärstandort mitten im Wald. Doch es gab auch einen Tag der offenen Tür, vornehmlich für die niederländischen Angehörigen, – und für die deutschen Nachbarn. Auch Friedrich Schierholz war dabei und erinnert sich an die militärischen Einrichtungen und Waffen, an die Gebäude, aber auch an die holländischen Spezialitäten, die es an jenem Tag gab.
Der Bunker sollte unbedingt bleiben
Die komplette Infrastruktur inklusive Strom und Wasser war bereits in den 60er Jahren verlegt worden. Die kleine Baracke, die heute noch als
Ruine am Metalltor steht und in der Menschen einen alten Grillwagen platziert haben, war ein Umspannhäuschen. Vom Offizierskasino und anderen Gebäuden ist nichts mehr zu sehen, die Bodenschadstoffe, versichert Schierholz, seien entfernt worden. Nur der Bunker steht noch. In dem lagerten bis zum Abzug 1994 die mobilen Hawk-raketen, die auf Laderampen von Lastwagen von Anhöhe zu Anhöhe transportiert oder während eines Manövers verlegt werden konnten.
Der Förster kennt den Grund: Ausdrücklicher Wunsch sei es gewesen, dass der Bunker stehen bleibe, um Amphibien Unterschlupf zu gewähren. Und genau so ist es gekommen. Waldeidechsen haben sich auf diesem verlorenen Plätzchen breit gemacht, eine besondere Libellenart hat hier eine Heimat gefunden.
Paradies für Tiere und Pflanzen
Dagegen halten sich, zumindest aktuell, die Vorfälle mit Chaoten auf dem Lost Place in Grenzen. Das Müllproblem scheint nicht mehr allzu groß. Die asphaltierten Rampen und Nebenstraßen sind für Wanderer und Fahrradfahrer, die sich ab und zu hierher verirren, kaum noch auszumachen. Die Natur holt sich das ihre zurück. Längst ist die Kuppe nicht mehr kahl. Die Bäume, die das Militär als Ersatz für 76 abgeholzte Buchen setzte, haben sich in den Jahrzehnten prächtig entwickelt.
Ein Aufkleber mit der Aufschrift „Nett hier“peckt an einem „Durchfahrt verboten“-schild, das nahe der aufgedrehten Drahtzäune durchlöchert am Boden liegt. Paintball-spieler und andere Schießwütige haben sich einst hier getroffen und ein paar Spuren hinterlassen. Auch Obdachlose zog die Einsamkeit an – und Partymacher. Doch derzeit ist alles ruhig. Lediglich das Grün bahnt sich durch das Metallgeflecht langsam, aber hartnäckig, seinen Weg. Nett hier? Immer eine Frage der Sichtweise. „Es mag optisch ein Schandfleck sein, aber die Natur sieht das anders“, versichert der pensionierte Förster. Und wie zur Bestätigung bleibt er vor einem blühenden Baum stehen. Ein Apfelbaum mitten im Wald?