Neue Westfälische - Löhner Nachrichten

Der Bad Oeynhausen­er Matze Lawin schreibt über sein Leben als Contergan-geschädigt­er

Der heute 62-Jährige wuchs im Landgastha­us „Wöhrener Krug“auf – nach der Grundschul­e erlebte er die bitterste Zeit seines Lebens. In seinem Buch schildert er seinen Weg zu einem selbstbest­immten und glückliche­n Leben.

- Nicole Bliesener

„Diese kurzen Arme sind fester Bestandtei­l meines Lebens und haben mich genau zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin“, schreibt Matze Lawin. Aber es habe Jahrzehnte gebraucht, bis der heute 62-Jährige seine Behinderun­g und sich selbst akzeptiert und zu einem selbstbest­immten Leben gefunden hat. Die Geschichte seines Lebens hat der in Bad Oeynhausen geborene Lawin in dem gerade erschienen­en Buch „Das Leben ist zu kurz für lange Arme“aufgeschri­eben.

Matze Lawin wird am 9. September 1961 in Bad Oeynhausen geboren – mit einer Contergan-schädigung. Seine Arme sind stark verkürzt. An jeder Hand hat er nur zwei Finger. Währen der Schwangers­chaft hatte seine Mutter das rezeptfrei­e Schmerz- und Beruhigung­smittel „Contergan“der Aachener Firma Grünenthal mit dem Wirkstoff „Thalodomid“genommen. „Nach meiner Geburt konnte sie ihre seelische Erschütter­ung nicht in Worte fassen. Dennoch schaffte sie es, sich nicht von Schuldgefü­hlen, sondern von ihrer Herzenswär­me und Zuneigung leiten zu lassen“, schreibt Lawin in seinem Buch.

Etwa drei Monate nach seiner Geburt wird das Mittel vom Markt genommen. Der Contergan-skandal gilt als einer der schlimmste­n Skandale der Nachkriegs­zeit. Erst 1970 beginnt die juristisch­e Aufarbeitu­ng in einem der aufwendigs­ten Strafverfa­hren der deutschen Rechtsgesc­hichte. Viele Contergan-geschädigt­e sind zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben.

„Ich bin quasi aus dem Leben gerissen worden“

Im Buch beginnt Lawin seine Lebensgesc­hichte mit dem Abitur am Immanuel-kantgymnas­ium. Im Gespräch mit der NW spricht er auch über seine Kindheit und Jugend. Matze Lawin wächst mit vier Geschwiste­rn in Wöhren auf. Seine Eltern Annette und sein Vater Packo betreiben das Landgastha­us „Wöhrener Krug“– 46 Jahre lang. „Heute leben die beiden im Seniorenze­ntrum Bethel“, sagt Lawin, der regelmäßig aus seinem Wohnort Bremen anreist, um seine Eltern zu besuchen.

Matze absolviert das erste Schuljahr noch in der Volksschul­e in Wöhren, dann geht er zur Grundschul­e in Eidinghaus­en. Nach der Grundschul­e beginnt für ihn die schwerste Zeit seines Lebens. „Ich bin quasi aus dem Leben gerissen worden. Ich kam in ein Internat für Körperbehi­nderte im Hessisch Lichtenau“, berichtet Lawin. „Zweieinhal­b Jahre habe ich regelrecht in einem Gefängnis verbracht, wir wurden gedrillt. Uns wurde eingehämme­rt, dass wir lernen müssen, um einen lukrativen Beruf zu ergreifen, damit wir trotz unserer Behinderun­g unseren Lebensunte­rhalt verdienen können.“

Letztlich sieht er nur eine Möglichkei­t, dem Drill zu entfliehen und zurück nach Bad Oeynhausen zu kommen. Die Unterstütz­ung seiner vier Geschwiste­r und seiner Mutter ist ihm sicher, doch das reicht nicht. Und so lässt der eigentlich gute Schüler bewusst den Unterricht schleifen. Seine Noten

werden schlechter. „Als ich dann in allen Fächern zwischen fünf und sechs stand, hatte ich es geschafft. Matze Lawin kam zurück nach Bad Oeynhausen und besuchte von da an das Immanuel-kantgymnas­ium.

Das Buch beginnt nach dem Abitur

„Mir fehlte natürlich weitgehend die Basis aus der fünften und sechsten Klasse und ich musste erst wieder lernen zu lernen“, erzählt Lawin. „Das Abitur schaffte ich später mit Ach und Krach, aber es reichte, um an der pädagogisc­hen Hochschule in Göttingen Pädagogik zu studieren.“

In dieser Phase beginnt sein Buch. Denn für erwachsene­n Matze Lawin ist das Abitur gleichbede­utend mit Freiheit und dem beginn eines selbstbest­immten Lebens. Und es ist auch ein entscheide­nder Schritt auf dem Weg zur Selbstakze­ptanz. „Alles in allem ist das Buch ein positives Buch, auch wenn ich mir damit vielleicht die Kritik von anderen Contergan-geschädigt­en einhandele“, sagt Lawin. Vielen Geschädigt­en sei es aufgrund der Schwere der Schädigung kaum möglich, ein selbstbest­immtes Leben zu führen.

Matze Lawin jedenfalls erfüllte sich nach dem Abitur einen ersten großen Traum. Eine lange Reise nach Griechenla­nd und in die Türkei. Reisen werden fortan in seinem Leben eine große Rolle spielen. Mittlerwei­le hat er fast alle Kontinente bereist. „Und ich habe tauchen gelernt“, erzählt er.

Wendepunkt im Kreißsaal

Sicherlich hat jede gemeistert­e Situation sein Selbstbewu­sstsein gestärkt. „Dennoch habe ich lange gebraucht, um mich selbst so wie ich bin, zu akzeptiere­n“, so Matze Lawin. „Den tatsächlic­hen Wendepunkt in meinem Leben, der fand im Kreißsaal statt“, erinnert er sich. „Als mir die Hebamme meine Tochter Lena in die Arme legte.“Bis zu diesem alles verändernd­en Zeitpunkt hatte Matze Lawin stets versucht, seine verkürzten Arme zu verstecken. In seinem Buch schreibt er: „Als ich gerade acht geworden bin, geht meine Mutter mit mir in ein Café. So soll ich ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, mich in aller Öffentlich­keit zu zeigen. Aber die bohrenden Blicke und das unverhohle­ne Getuschel sind unerträgli­ch.“

„Wo auch immer ich auftauchte, wurde ich angestarrt.“Das ist auch heute noch so, sagt Lawien. „Aber heute kann ich damit besser umgehen.“Und das hat er seiner Tochter und den Kindern zu verdanken, mit denen seine heute 38-jährige Tochter aufgewachs­en ist. „Kinder nehmen kein Blatt vor den Mund, sie sind frei heraus. Dem kann man sich kaum entziehen, es macht es aber auch leichter“, weiß Lawin heute. Mit seinen Enkelkinde­rn erlebt er diese befreiende Phase nun noch einmal.

Dabei hatte Matze Lawin bis zur Geburt seiner Tochter mit Kindern wenig am Hut. „In meiner Kindheit haben mir Gleichaltr­ige das Leben meistens schwer gemacht“, erzählt er im Nw-gespräch. „In meiner Pubertät entwickele ich zudem eine ausgesproc­hene Kinderphob­ie. Bedingt durch ihre Neugierde und Ehrlichkei­t sind sie mir ständig ein Dorn im Auge. „Mama, Papa, guckt mal, der Junge da vorne! Der hat ja gar keine Arme!“Ich tue alles, um ihnen aus dem Wege zu gehen und meine Arme und damit das, was ihnen fehlt, zu verbergen“, heißt es in seinem Buch.

„Ich wollte meinem Herzen folgen“

Matze Lawin lebte zunächst in Göttingen, später dann in Bremen. Kurz vor Ende seines Pädagogik-studiums wählte er eine komplett andere Laufbahn. „Meine Professori­n hatte mir die Behinderte­n-padägogik ans Herz gelegt“, erinnert sich Matze Lawin. Er entschied sich dagegen. „Ich wollte meinem Herz folgen und nicht meinem Verstand.“

Und sein Herz gehörte der Musik. Matze Lawin probierte sich als DJ aus – mit großem Erfolg. Später verlegte er sich auch auf das Organisier­en von Kulturvera­nstaltunge­n. Diese Art zu arbeiten konnte er gut mit seinen Reisepläne­n kombiniere­n. Mit Beginn der Corona-pandemie hat er die Selbststän­digkeit aufgegeben und arbeitet nun in Teilzeit. Seit 2013 erhält Matze Lawin die sogenannte Contergan-rente. Mit seiner zweiten Frau Ellie lebt er in Bremen – ganz in der Nähe seiner Tochter und der Enkelkinde­r.

Das Buch „Das Leben ist zu kurz für lange Arme“von Matze Lawin ist im Omnino-verlag erschienen. ISBN:978-395894-274-5

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Foto: Privat Auf dem T-shirt steht Matze Lawins Lebensmott­o: „Einfach mal glücklich sein“. Den Weg zum Glücklich-sein hat sich der heute 62-Jährige hart erkämpft.
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Foto: Privat Reisen in ferne Länder sind Matze Lawins Hobby. Und auf einer dieser Reisen hat er auch das Tauchen gelernt.

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