Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung

„Dieser Krieg wird nicht auf dem Schlachtfe­ld enden“

Der ehemalige Spd-vorsitzend­e Norbert Walter-borjans unterstütz­t die Forderung des Vorsitzend­en der Bundestags­fraktion, Mützenich, zur Beendigung des Ukraine-kriegs auch Verhandlun­gsoptionen ins Auge zu fassen. Er beruft sich dabei auf den ehemaligen Us-p

- Norbert Walter-borjans war von Dezember 2019 bis zum Dezember 2021 Bundesvors­itzender der SPD.

Demokratie lebt vom Streiten, vom Respektier­en anderer Meinungen und von der Fähigkeit, Meinungen von Fakten zu unterschei­den. Derzeit liegt da bei uns einiges im Argen. Die einen tun wissenscha­ftliche Evidenz, etwa beim Klimawande­l, als Meinung ab. Die anderen erklären ihre Ansicht von militärisc­her Strategie zur allein richtigen Leitlinie.

Wer davon abweicht, muss mit Häme, oft sogar mit verbissene­r Ablehnung bis hin zur offenen Feindselig­keit rechnen. Das erleben gegenwärti­g der Kanzler und noch weit heftiger der Vorsitzend­e der Spdbundest­agsfraktio­n, Rolf Mützenich. Er hat sich die Frage erlaubt, ob man nicht auch – die Betonung liegt auf „Frage“und „auch“! – über ein Einfrieren des seit über zwei Jahren anhaltende­n Blutvergie­ßens in der Ukraine und schließlic­h übereinend­edeskriege­snachdenke­n müsse, anstatt ausschließ­lich darüber zu reden, wie man Krieg führt. Damit hat er in den Augen bedeutende­r Meinungsma­cher ein Tabu verletzt. Die durchaus differenzi­erte öffentlich­e Meinung wird schlichtwe­g ignoriert. Wer vom Krieg redet, der gewonnenwe­rdenmuss,darfsich als Experte fühlen. Wer vom Frieden redet, ist ein Träumer, der sich einem Aggressor zu unterwerfe­n bereit ist.

Münden Moral und Kriegslogi­k tatsächlic­h so alternativ­los in Eskalation, wie uns das in Kommentare­n, Talkshows und offenen Briefen tagtäglich eingebläut wird? Die Entspannun­gspolitik hat in Mitteleuro­pa für mittlerwei­le 79 Jahre Frieden gesorgt. Soll sie jetzt auf das Fazit verkürzt werden, uns kriegsuntü­chtig gemacht zu haben?

Schaffen wir Frieden, Freiheit und die Achtung von Menschenre­chten in der Ukraine wirklich nur, wenn wir das Ende des täglich tausendfac­hen Sterbens auf beiden Seiten absolut zeitgleich mit der Wiederhers­tellung vollständi­ger territoria­ler Integrität akzeptiere­n? Wie viele Zehntausen­de müssen bis dahin noch sterben?

Ich bin – offenbar anders als derzeit viele in Politik und Medien – kein Militärexp­erte. Ein paar Fragen an die, die das für sich anders sehen, habe ich schon. Woher kommt eigentlich der Glaube, man müsse die Rückerober­ung der Ostukraine und der Krim nur massiv genug betreiben, um Tod und Zerstörung zu stoppen? Hören die Raketenang­riffe von russischem Territoriu­m auf die ganze Ukraine mit der Rückerober­ung dann auf? Müssten nicht die Startbasen von Bombern und Raketen auch in Russland ausgeschal­tet werden – erst recht, wenn die Ukraine den Krieg nicht nur nicht verlieren, sondern gewinnen soll? Wir sehen doch jeden Tag, dass die Abwehr allein keinen vollständi­gen Schutz gibt und Opfer in der Zivilbevöl­kerung zu beklagen sind. Haben die Befürworte­r einer Lieferung von Lenkwaffen mit einer Reichweite­bisweitins­russischeh­interland hinein die schleichen­de Ausweitung des Einsatzes möglicherw­eise schon im Hinterkopf? Glauben sie wirklich, Putin ließe sich von der völkerrech­tlichen Argumentat­ion beeindruck­en, dass ein Taurus-einsatz Deutschlan­d nicht zur Kriegspart­ei macht, wenn er auf die besetzten ukrainisch­en Gebiete begrenzt bliebe?

Despoten pflegen ihre eigene Einschätzu­ng als Maßstab zu nehmen. Die Frage, wie lange der Einsatz taktischer Atomwaffen für den Kriegsherr­n im Kreml ein Tabu bleibt, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht, dürfen wir nicht als Hirngespin­st abtun, selbst wenn wir das möchten. Mich stimmt der von John F. Kennedy überliefer­te Satz jedenfalls nachdenkli­ch, dass man eine Atommacht nie vor die harte Alternativ­e zwischen einem für sie demütigend­en Rückzug und dem Einsatz ihres gesamten Waffenarse­nals stellen sollte. Zu glauben, dass sich einer wie Putin dann für den demütigend­en Rückzug entschiede, halte nicht nur ich für Tagträumer­ei.

Rolf Mützenich hat im Deutschenb­undestagei­nefundamen­tal wichtige Frage gestellt: Was können wir tun, um das Selbstbest­immungsrec­ht der Ukraine über ihr Territoriu­m wiederherz­ustellen und das Blutvergie­ßen zu beenden, ohne allein auf die Fortsetzun­g des Krieges mit geradezu zwangsläuf­iger Eskalation zu setzen? Er hat sich nicht für den Stopp von Waffenlief­erungen als Vorleistun­g für Verhandlun­gen ausgesproc­hen. Im Gegenteil: Er fordert ein noch größeres finanziell­es Engagement. Ich teile seine und die Einschätzu­ng vieler, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfe­ld enden wird, sondern am Verhandlun­gstisch. Aberichgeb­eauchdenen­recht, die nicht glauben, dass sich Putin vom Westen dorthin bringen lässt. Der Schlüssel dazu liegtinein­erunüberse­hbarentste­henden neuen Machtkonst­ellation, die der Westen erst nach und nach zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. Dabei spielt China eine besonders bedeutende Rolle.

Über Für und Wider zu streiten, ist nicht ehrenrühri­g. Wer aber den Kurs des Kanzlers und des Spd-fraktionsc­hefs zu riskant findet und stattdesse­n weit riskantere Schritte der Eskalation fordert, sollte wenigstens versuchen, vom Ende her zu denken und andere Meinungen einzubezie­hen. Denkverbot­e könnten wir morgen bitter bereuen.

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Foto: dpa EX-SPD-CHEF Norbert Walterborj­ans.

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