Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Folge 5
Ich streckte mich nach dem Handtuch, das ich über die Duschvorhangstange geworfen hatte, wickelte mich ein und genoss meine Gänsehaut.
Bei der Zahnpasta hatten sie etwas an der Zusammensetzung geändert. Es schäumte nicht mehr so, egal, wie sehr ich schrubbte. Noch zwei Schuss Deo. Nicht in den Spiegel gucken.
Ich schlüpfte in meine Boxershorts und in meine kurze Hose, streifte zuerst ein weißes T-shirt, das eng am Hals abschloss, über und zog darüber ein zweites, weites, das an mir hing wie ein Nachthemd an einem Skelett. Darüber einen Xxl-hoodie. Baggy-skater-style. Liebte ich.
Die Tür des fensterlosen Badezimmers ließ ich offen, damit die Feuchtigkeit abziehen konnte und die Tapete an den ungefliesten Stellen nicht noch aufgequollener wurde. Eine Falte, die sich unschön zu wölben begonnen hatte, drückte ich glatt.
Aus meinem Zimmer schallte Musik. Es geht mir gut, ich mein,
Es könnte weiß Gott schlimmer sein. Klar, es kommt vor, man schließt sich in sein Zimmer ein . . .
Die Stereoanlage lief. Danke, gut! vom neuen Eins-zwo-album wummerte aus den Boxen, der Bass ließ die Membranen vibrieren wie ein mittelschweres Erdbeben.
Auf meiner Couch hing Viktor und grinste mich an.
„Na, Krüger, was geht?“Mit der Fernbedienung regulierte er die Lautstärke runter, und wir schlugen ein. Schnipsinger. Unser Begrüßungshandschlag. Oder wenn jemand was Cooles gesagt oder gemacht hatte. Unsere Hände klatschten flach ein, beim Auseinanderziehen drückten wir Daumen, Zeige- und Mittelfinger gegeneinander, dass es schnippte. Was geht? Schnipsinger. Wie in dem Film KIDS. Übelst lässig.
„Nicht viel“, sagte ich und streckte Vik den Teller mit Broten entgegen.
„Alter, Krüger, siehst du verpicht aus. Was ist mit dir denn los?“Verpicht. War seit einiger Zeit Viktors Lieblingswort. Eine Mischung aus verpeilt und dicht. Wahlweise bedeutete es auch einfach: beschissen. Verpicht. Konnte man auch als Verb benutzen. Etwas verpichen. Ich zeigte ihm den Mittelfinger. Er gluckste.
Viktor selbst sah aus wie eine Streberversion von Leonardo Dicaprio aus Titanic. Blonde, fluffige Haare wie gerade geföhnt, weiße Zähne, ein Gesicht wie aus einer Bravo-fotolovestory. Und eine breitrandige Brille mit flaschenbodendicken Gläsern, ohne die Vik so kurzsichtig war wie ein Grottenolm.
Er trug ein T-shirt und ein offenes Hawaiihemd, die Dickies-cargo saß weit unter der Hüfte.
Ich nahm mir ebenfalls ein Brot und sagte kauend: „Erstens: Niemand außer dir benutzt verpicht. Absolut niemand. Und zweitens: Ich sehe aus, wie man aussieht, wenn man mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird, du Pfosten. Was willst du schon hier? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
„Nein.“Viktor zuckte die Achseln. „Du?“„Äh, nein.“Ich schaute auf die Casio, die neben dem Aschenbecher lag, und legte sie mir ums Handgelenk. „Acht. Es ist acht!“, stöhnte ich und ließ mich neben meinen Kumpel auf die Couch fallen. „Warum hast du nicht angerufen?“
Viktor guckte mich herausfordernd an. „Wärst du ins Wohnzimmer gelaufen und rangegangen?“
„Hm.“
„Oder hast du im Lotto gewonnen und dir ein Handy geholt?“(Fortsetzung folgt) © 2022 dtv Verlagsgesellschaft mbh & Co. KG, München