Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
„Wie ungewöhnlich.“„Ist aber so. Wenn die denken, dass sie gesehen werden, trauen die sich nichts. Die Stämme in der Steppe von Botsuana haben immer bemalte Tonmasken um den Hinterkopf gebunden. ›Zweites Gesicht‹ nennen sie das. Damit sie nicht von hinten von Löwen angefallen werden.“
„Zwei Gesichter, soso. Dann . . .“
Mist. Ein Geräusch hatte die Steinmetzin mitten im Satz innehalten lassen. Ein Knacken. Ich war auf einen trockenen Zweig getreten, was die beiden sich umdrehen und auf die Stelle der Hecke starren ließ, hinter der ich hockte.
Eine Augenblick verharrten sie regungslos wie die Statuen, die sie umgaben. Dann machte das Mädchen einen Satz aus meinem Sichtfeld.
„Warte!“, rief ich, doch glaubte es mir selbst nicht.
Ich hörte noch, wie sie über einen Zaun kletterte. Dann war sie weg.
Wissend, dass ich sie dort nicht erwischen würde, rannte ich den Weg zurück auf die Straße vor der Werkstatt. Nichts. Ich schaute nach links. Nach rechts. Vergebens.
Unschlüssig hatte ich dort vor dem Tor der Steimmetzerei gestanden. Die Minuten waren verronnen. Ich hatte ein paar Schritte in die eine Richtung
getan. Dann zurück in die andere. Mein Kopf hatte geschwirrt. Die Gedanken hatten sich überschlagen. Und ein flaues Gefühl hatte sich in meinen Magen gegraben. Irgendetwas Diffuses, das ich nicht einzuordnen imstande gewesen war. Etwas, das in mir auch heute noch ab und an hochschwappt, wenn ich spüre, dass mein Leben dabei ist, sich zu verändern. Dass etwas Neues passiert.
Und damals? Was hatte dieses Gefühl ausgemacht? Furcht? Vielleicht. Neugierde? Möglich.
Hatte ich dieses Mädchen finden und hatte ich sie wiedersehen wollen?
Noch heute, rückblickend, bin ich nicht sicher, was ich wirklich gewollt hatte. Und auch an diesem Sommermorgen war ich es nicht.
Das Einzige, was ich in diesem Moment vor der Steinmetzerei mit Sicherheit wusste, war:
Wenn ich dieses Mädchen nicht fand, sie nicht wiedersah, würde ich meinen Rucksack mit meinem Notizbuch nicht wiederbekommen. Alle Gedanken, Entwürfe und Geschichten wären weg. Auch die eine Geschichte. Die einzige, die ich je über mich geschrieben hatte. Die Geschichte, die – und das war das Wichtigste für mich – niemand jemals lesen durfte. Niemand. Erst recht nicht dieses Mädchen.
Die Geschichte, die alles verband, die erzählte, was mit meinem Brustkorb war, weshalb ich Krüger hieß und wieso ich nicht mehr schwimmen konnte.
In meinem Notizbuch stand die Geschichte mit meinem Geheimnis. Der Grund für alles. Die Geschichte, wieso ich mich nicht verlieben durfte.
„KANNTEST DU DIE?“, fragte Viktor.
Wir saßen auf einer Bank in einer Seitenstraße. Viktor hatte unsere Räder geholt und sich neben mir niedergelassen. Mit einem Zipfel seines Hawaiihemdes putzte er seine Brille und hielt sie dabei immer wieder prüfend gegen die Sonne. Das weiße Licht fiel durch die
Gläser und brach sich in einem Farbband aus Rot, Gelb, Grün und Lila. Es liegt Gold am Ende des Regenbogens, dachte ich und schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung, wer das war. Ich hab die hier noch nie gesehen.“