Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung

Man vergisst nicht, wie man schwimmt

- VON CHRISTIAN HUBER

„Wie ungewöhnli­ch.“„Ist aber so. Wenn die denken, dass sie gesehen werden, trauen die sich nichts. Die Stämme in der Steppe von Botsuana haben immer bemalte Tonmasken um den Hinterkopf gebunden. ›Zweites Gesicht‹ nennen sie das. Damit sie nicht von hinten von Löwen angefallen werden.“

„Zwei Gesichter, soso. Dann . . .“

Mist. Ein Geräusch hatte die Steinmetzi­n mitten im Satz innehalten lassen. Ein Knacken. Ich war auf einen trockenen Zweig getreten, was die beiden sich umdrehen und auf die Stelle der Hecke starren ließ, hinter der ich hockte.

Eine Augenblick verharrten sie regungslos wie die Statuen, die sie umgaben. Dann machte das Mädchen einen Satz aus meinem Sichtfeld.

„Warte!“, rief ich, doch glaubte es mir selbst nicht.

Ich hörte noch, wie sie über einen Zaun kletterte. Dann war sie weg.

Wissend, dass ich sie dort nicht erwischen würde, rannte ich den Weg zurück auf die Straße vor der Werkstatt. Nichts. Ich schaute nach links. Nach rechts. Vergebens.

Unschlüssi­g hatte ich dort vor dem Tor der Steimmetze­rei gestanden. Die Minuten waren verronnen. Ich hatte ein paar Schritte in die eine Richtung

getan. Dann zurück in die andere. Mein Kopf hatte geschwirrt. Die Gedanken hatten sich überschlag­en. Und ein flaues Gefühl hatte sich in meinen Magen gegraben. Irgendetwa­s Diffuses, das ich nicht einzuordne­n imstande gewesen war. Etwas, das in mir auch heute noch ab und an hochschwap­pt, wenn ich spüre, dass mein Leben dabei ist, sich zu verändern. Dass etwas Neues passiert.

Und damals? Was hatte dieses Gefühl ausgemacht? Furcht? Vielleicht. Neugierde? Möglich.

Hatte ich dieses Mädchen finden und hatte ich sie wiedersehe­n wollen?

Noch heute, rückblicke­nd, bin ich nicht sicher, was ich wirklich gewollt hatte. Und auch an diesem Sommermorg­en war ich es nicht.

Das Einzige, was ich in diesem Moment vor der Steinmetze­rei mit Sicherheit wusste, war:

Wenn ich dieses Mädchen nicht fand, sie nicht wiedersah, würde ich meinen Rucksack mit meinem Notizbuch nicht wiederbeko­mmen. Alle Gedanken, Entwürfe und Geschichte­n wären weg. Auch die eine Geschichte. Die einzige, die ich je über mich geschriebe­n hatte. Die Geschichte, die – und das war das Wichtigste für mich – niemand jemals lesen durfte. Niemand. Erst recht nicht dieses Mädchen.

Die Geschichte, die alles verband, die erzählte, was mit meinem Brustkorb war, weshalb ich Krüger hieß und wieso ich nicht mehr schwimmen konnte.

In meinem Notizbuch stand die Geschichte mit meinem Geheimnis. Der Grund für alles. Die Geschichte, wieso ich mich nicht verlieben durfte.

„KANNTEST DU DIE?“, fragte Viktor.

Wir saßen auf einer Bank in einer Seitenstra­ße. Viktor hatte unsere Räder geholt und sich neben mir niedergela­ssen. Mit einem Zipfel seines Hawaiihemd­es putzte er seine Brille und hielt sie dabei immer wieder prüfend gegen die Sonne. Das weiße Licht fiel durch die

Gläser und brach sich in einem Farbband aus Rot, Gelb, Grün und Lila. Es liegt Gold am Ende des Regenbogen­s, dachte ich und schüttelte den Kopf.

„Keine Ahnung, wer das war. Ich hab die hier noch nie gesehen.“

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