Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung
Langer Abend des Nachdenkens und der Besinnlichkeit
Das Literatur- und Musikfestival „Wege durch das Land“macht Station in Paderborn. Dabei kündet der „Pianist aus den Trümmern“von der Schwere des Glücks.
Paderborn. „Wo der Töne Zauber walten, wo der Worte Weihe spricht, lässt sich Herrliches gestalten, Nacht und Stürme werden Licht“, diese Worte aus Beethovens Chorfantasie gewinnen liebevolle Aktualität im Literatur- und Musikfestival „Wege durch das Land“, das frühsommerliche Kulturereignis bietet seinen Besuchern auch in diesem Jahr eine Vielzahl hochkarätiger Veranstaltungen im Raum Ostwestfalen-lippe. Dritte Station war am Samstag die altehrwürdige Theologische Fakultät im ausverkauften Auditorium Maximum.
„Das Heim ist fort, das Weh, es bleibt“, unter diesem Motto widmen sich die Veranstalter anhand ausgewählter Literatur den zeitgemäßen Themen Entwurzelung, Verlust der Heimat und Orientierungslosigkeit. „Heimweh, wonach?“fragt Mascha Kaléko in ihrem Gedicht, als sie schon in Israel lebt, der Neubeginn in der Fremde fordert Kraft und Lebensstärke und die Bereitschaft, das Gewesene ruhen zu lassen.
Die literarischen Zeugnisse verbinden sich mit gleichwertigen musikalischen Darbietungen, so gelingt ein langer
Abend des Nachdenkens und der Besinnlichkeit. Ergreifend klingen die Klavierimprovisationen von Aeham Ahmad, mit „Dawn“erscheint ein neuer Tag, die Morgendämmerung verbreitet Aufbruchsstimmung, durchsetzt mit vokalistischem Freud- und Klagelaut des Interpreten.
Aeham Achmad ist der „Pianist aus den Trümmern“des syrischen Flüchtlingslagers Jarmouk nahe Damaskus, ausgehungert und zerstört in barbarischen Kriegshandlungen. Er spielte dort inmitten von Schutt und Ruinen für die gequälten Menschen, um sie mit seinem Spiel an einen imaginären Ort der Hoffnung zu führen, bis sein Instrument zerschlagen und verbrannt wurde und er fliehen musste. Auf gefährlichen Wegen in seiner neuen Heimat Deutschland angekommen, kündet er „Von der Schwere des Glücks“.
Der künstlerische Leiter Stephan Szász erläutert diesen Leitgedanken, mit dem der musikalisch-literarische Abend überschrieben ist. Er stellt den Autor Volker Weidermann vor, der aus seiner Erzählung „Ostende“lesen wird, umrahmt von Ahmads Klavierkompositionen kommt zu späterer Stunde der Schauspieler Sebastian Blomberg ans Lesepult.
Weidermann geleitet die Zuhörer in den Badeort Oostende in Westflandern, es ist Sommer im Jahr 1936, eine illustre Gesellschaft deutscher Literaten verbringt trügerische Wochen in Glück und geistiger Freiheit. Der noble Stefan Zweig empfängt seinen Dichterfreund Joseph Roth, die Schriftstellerin Irmgard Keun und weitere im faschistischen Deutschland schreibende Personen, deren Bücher in den Pogromnächten schon der Verbrennung anheimfielen. Sorgfältig recherchiert und amüsant aufbereitet entwickelt Weidermann eine „Kultur der Geflüchteten“, allen ist klar, dass eine Rückkehr ins Deutsche Reich tödliche Folgen für sie haben würde.
Es erblüht eine leidenschaftliche Beziehung zwischen Joseph Roth, dem kaisertreuen wohlgemuten Trinker aus dem fernen ostgalizischen Brody und der gesellschaftskritischen Charlottenburgerin Irmgard Keun, begleitet von Gespräch und Diskurs in froher Runde, bis die Freunde auseinandergehen, in die ungewisse Zukunft und in den Tod. „Die Gedanken sind frei“, das Lied bewegt auch Aeham Ahmad, seine virtuosen Improvisationen dringen ins Gemüt, das Publikum dankt mit starkem Applaus für Text und Musik.
Eine wohltuende Atmosphäre christlich-jüdischer Spiritualität wirkt in der Theologischen Fakultät. Dazu passt die Geschichte des gottesfürchtigen Tora-lehrers Mendel Singer und seiner Familie aus Joseph Roths Roman „Hiob“, erschienen 1930. Sebastian Blomberg liest mit dunkler geheimnisvoller Stimmlage den kompletten ersten Teil. Vom Autor in die neue Zeit versetzt, beschreibt Roth in exzellenter Formulierungskunst den von Schicksalsschlägen Gebeutelten, seine dahin welkende Gattin Deborah, die ihm als viertes Kind einen schwerbehinderten Sohn gebar. Seine Tochter vergnügt sich mit Kosaken, doch einem Sohn gelingt der Aufstieg in Amerika, Vater, Mutter, Schwester folgen nach, aber wo bleibt Gott? Schluss mit Beethoven am Klavier, mitreißend verbindet Aeham Ahmad Themen der Neunten mit vokalistischen Zugaben und Arabesken, mit viel Beifall endet der anregende Abend.
Auf gefährlichen Wegen in die neue Heimat